Mit mehr Flexibilität gegen den Arbeitskräftemangel

18. Juli 2022 Meinungen

Stellen Sie sich vor, es ist ein sonniger Mittwochnachmittag; Nach einem arbeitsintensiven Morgen machen Eltern mit ihren Kindern einen Ausflug an den See oder sportlich Ambitionierte gehen zwei Stunden laufen. Im Gegenzug verlegen sie die Arbeit in den Abend hinein. Diese freie Gestaltung der verschiedenen Lebensbereiche klingt verlockend, ist leider aber zu schön, um erlaubt zu sein. Der Grund liegt in dem Schweizer Arbeitsgesetz festgelegten Arbeitszeitrahmen, der besagt, dass die Arbeitnehmenden ihre tägliche Arbeit innerhalb eines gesetzlich definierten Zeitrahmens von 14 Stunden erbringen müssen. Dieser starre Arbeitszeitrahmen ist nur ein Beispiel dafür, wie schwierig es für die Arbeitgeber sein kann, auf Basis der aktuellen Gesetzeslage flexibles Arbeiten zu ermöglichen.

Das aktuell geltende Arbeitsgesetz geht im Wesentlichen auf das Jahr 1964 zurück und stammt aus einer Zeit, in der die Schweizer Wirtschaft in weiten Teilen von der Industrie geprägt war. Dementsprechend stark war es auf den Schutz der Fabrikarbeitenden ausgerichtet – Morgen einstempeln, Abend ausstempeln. Heute aber arbeitet ein Grossteil der Arbeitnehmenden nicht mehr in Fabriken, sondern im Dienstleistungssektor. Demzufolge ist es auch bei der Arbeitsweise zu signifikanten Veränderungen gekommen: Die Arbeitnehmer arbeiten heute nicht nur ortsunabhängiger, sondern auch generell flexibler und autonomer. Klassische «nine to five»-Arbeitszeiten sind in diesem Umfeld nur noch wenig zeitgemäss: Der heute gelebten Arbeitsrealität kann das Arbeitsgesetz nicht mehr vollständig gerecht werden.

Dass der Wunsch nach mehr Flexibilität von Seiten der Arbeitnehmenden gross ist, zeigt beispielsweise die internationale Arbeitsmarktstudie «Global Talent Study» aus dem Jahr 2021. Demnach wünschen sich mehr als acht von zehn Schweizer Arbeitnehmenden mindestens teilweise flexiblen Arbeitszeiten. Laut der Studie ist dieses Bedürfnis «im Vergleich zum weltweiten Durchschnitt in der Schweiz besonders stark ausgeprägt». Der Trend zu flexibleren Arbeitsformen wurde nicht zuletzt durch die Pandemie und die damit verbundene Homeoffice-Pflicht zusätzlich beschleunigt. Des Weiteren hat die Vereinbarkeit von Beruflichem und Privatem heute einen anderen, durchaus höheren Stellenwert als früher. Das aktuell geltende Arbeitsgesetz läuft diesem gesteigerten Bedürfnis teilweise zuwider.

Der heute gelebten Arbeitsrealität kann das Arbeitsgesetz nicht mehr vollständig gerecht werden.

Gegen die Flexibilisierung der Arbeitszeiten wird gerne argumentiert, dass die Arbeitnehmenden unter Druck geraten könnten, länger zu arbeiten und jederzeit erreichbar sein zu müssen. Oft heisst es gar, dass die Arbeitnehmenden vor sich selbst geschützt werden müssten. Diese Argumentation ist in vielerlei Hinsicht nicht korrekt. Denn flexibles Arbeiten bedeutet grundsätzlich nicht, mehr zu arbeiten, sondern mehr Freiheit zu haben, wo und wann gearbeitet und wann Pause gemacht wird.

Die obligatorischen Pausen und die wöchentliche Höchstarbeitszeit verhindern bereits heute, dass zu lange gearbeitet werden darf. Eine Erhebung des BFS zeigt, dass die jährliche Arbeitszeit pro erwerbstätige Person in den letzten zehn Jahren nicht zu-, sondern deutlich abgenommen hat. Ausserdem bedeutet mehr Flexibilität für die Arbeitnehmenden nicht, dass diese rund um die Uhr erreichbar sein müssen, dies ist schon mit dem geltenden Arbeitsgesetz nicht der Fall. Und: Flexibles Arbeiten bedeutet auch nicht schutzlos zu arbeiten. Bereits heute sind die Arbeitgeber aufgrund der gesetzlichen Fürsorgepflicht verpflichtet, auf den Schutz der Gesundheit ihrer Arbeitnehmenden Rücksicht zu nehmen. Das heisst auch, dass sie Massnahmen ergreifen müssen, damit die Belastung nicht zu hoch ist. An dieser Pflicht ändert auch eine Flexibilisierung der Arbeitszeit nichts. Es ist schliesslich nicht im Interesse des Arbeitgebers, dass sich seine Arbeitnehmenden überarbeiten, da er damit auch allfällige Arbeitsausfälle in Kauf nehmen müsste.

Zu einer flexibleren Handhabung bei den Arbeitszeiten soll kein Arbeitnehmer gezwungen werden können. Vielmehr soll diese auf Vertrauen und einer Abmachung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer basieren und somit einem Bedürfnis auf beiden Seiten entsprechen. Flexible Arbeitszeiten werden auch künftig nur in gewissen Berufen möglich sein – und auch nicht von jedem Arbeitnehmer gewünscht werden. Fakt ist aber, dass der Wunsch nach mehr Flexibilität bei der Arbeitszeitgestaltung heute besteht und weiter zunehmen wird.

Diesem Bedürfnis ist Rechnung zu tragen. Mit flexibleren Arbeitszeiten könnten die Unternehmen nicht zuletzt auch ihre Attraktivität steigern, indem sie die Vereinbarkeit von Beruflichem und Privatem deutlich verbessern. Eine Flexibilisierung der Arbeitszeiten kann ferner zur Entschärfung des Arbeitskräftemangels beitragen. Denn dieser wird immer akuter: Laut Bundesamt für Statistik (BFS) gibt es in der Schweiz im Juni 2022 erstmals mehr als 100’000 unbesetzte Stellen. Bei der Suche nach Lösungen steht das inländische Arbeitskräftepotential im Fokus. Um dieses besser ausschöpfen zu können, ist es auch an den Arbeitgebern, die Arbeit so attraktiv wie möglich zu gestalten. Flexiblere Arbeitszeiten, die es den Arbeitnehmenden ermöglichen, Berufliches und Privates besser unter einen Hut zu bringen, können hierbei eine entscheidende Rolle spielen, da der Einstieg in den Arbeitsmarkt oder die Erhöhung der Arbeitspensen erleichtert würde. Dass Personen infolge starrer gesetzlicher Vorgaben vom Arbeitsmarkt fernbleiben, können und wollen sich die Arbeitgeber nicht mehr leisten.