Noch ist es zu früh für ein abschliessendes Urteil zu den diesjährigen Lohnverhandlungen, denn in vielen Betrieben sind sie noch in vollem Gange. Trotzdem lässt sich eine erste Zwischenbilanz ziehen. Während die vor kurzem publizierten Ergebnisse der UBS-Umfrage von einem durchschnittlichen Anstieg der Nominallöhne um 2,2 Prozent ausgehen, geht die Konjunkturforschungsstelle der ETH für das laufende und kommende Jahr insgesamt von einem Erhalt der Kaufkraft aus. Letzteres, da sie ab dem zweiten Halbjahr 2023 Teuerungsraten unter zwei Prozent erwartet.
Auffällig ist, dass in den Lohnverhandlungen im Zusammenhang mit Kostensteigerungen unterschiedlichster Art zunehmend die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber in die Pflicht genommen werden. Die Meinung, dass sie etwa für steigende Krankenkassenprämien, höhere Mieten oder gestiegene Lebenshaltungskosten in Form von höheren Löhnen aufkommen müssten, entspricht einer falschen Logik. Vielmehr müssen die jeweiligen Kosten differenziert betrachtet und die Probleme gezielt und nachhaltig bei der Ursache bekämpft werden, statt sie durch höhere Löhne zu vernebeln.
Ein Blick zurück zeigt, dass die Teuerung in den letzten zehn Jahren während fünf Jahren negativ war und in einem Jahr bei null Prozent lag. Trotzdem gab es in diesen Jahren zum Teil substanzielle Nominallohnerhöhungen. In der Summe führte dies zu einem durchschnittlichen Anstieg der Reallöhne von 0,8 Prozent pro Jahr. Auch im laufenden Jahr zeichnen sich für die Firmen trotz turbulenter Zeiten substanzielle Lohnerhöhungen ab. Ein wichtiger Treiber dürfte dabei die im Vergleich zu anderen Jahren gestiegene Verhandlungsmacht der Arbeitnehmenden sein. Dies als Folge des nahezu ausgetrockneten Arbeitsmarkts und des damit einhergehenden Engpasses an Arbeitskräften. Die Höhe der Teuerung spielt bei der Festlegung der Lohnerhöhungen hingegen meistens eine untergeordnete Rolle.
Im Übrigen darf der in diesem Jahr über lange Zeit erfreuliche konjunkturelle Verlauf mit guter Auftragslage in den Betrieben nicht darüber hinwegtäuschen, dass für sie die Herausforderungen und Risiken selten grösser waren. Noch im September rangierten die Lieferengpässe und der Arbeitskräftemangel ganz oben auf der Liste der drängendsten Probleme. Auch gegen Ende des Jahres bleibt die Situation für die Firmen vor dem Hintergrund der schwächelnden Konjunktur und der drohenden Energiemangellage unübersichtlich und herausfordernd.
Der von den Gewerkschaften geforderte Mindestlohn von 5000 Franken für Lehrabgänger würde Betriebe unabhängig von den branchenspezifischen und regionalen Gegebenheiten in ein Korsett zwingen, das sich sowohl für sie als auch für die Arbeitnehmenden negativ auswirken würde. So würde ein Mindestlohn von hohen 5000 Franken viele KMU zweifellos in eine schwierige Situation bringen, da er ihre firmeninterne Kostenstruktur massiv aufwirbeln würde. Die Höhe eines Mindestlohns von 5000 Franken ist zudem willkürlich gewählt – er könnte genauso etwa bei CHF 4500 oder 5500 Franken liegen.
Die gemäss Bundesamt für Statistik stabile Lohnschere ist ein erfreuliches Ergebnis des liberalen und offenen Schweizer Arbeitsmarktes. Dieser ist zurzeit so ausgetrocknet wie seit Jahren nicht mehr. In diesem Kontext ist ein unbedarfter Eingriff in Form eines Mindestlohnes, wie ihn die Gewerkschaften nun für Personen mit abgeschlossener Berufslehre fordern, schädlich und nicht nachvollziehbar. Der Arbeitsmarkt lechzt nach raren Handwerkerinnen und Handwerkern, und die Erfahrung zeigt, dass sich dieser Umstand positiv auf die Löhne auswirkt. Bewahrheiten sich die Schätzungen von UBS und KOF, sind sie ein starkes Zeichen der Arbeitgeber, die Arbeitnehmenden bestmöglich am Erfolg teilhaben zu lassen. Vor diesem Hintergrund dürfte es nicht überraschen, wenn die Kaufkraft der Arbeitnehmenden über das laufende und das kommende Jahr in etwa erhalten bleiben würde.