«Diese Krise hat gezeigt wie verschiedene Akteure, die normalerweise Mitbewerber sind, plötzlich zusammenspannten»

19. Juli 2023 Fokus

Marianne Wildi und Roger Süess, beide seit 2022 im Vorstandsausschuss des SAV, diskutieren im Interview die Bedeutung des instabilen, von den sich ablösenden Krisen geprägte Umfeld für ihre Branchen und für sie als Unternehmer und Arbeitgeber.

Als Sommerserie publiziert der Schweizerische Arbeitgeberverband einzelne Beiträge des kürzlich publizierten Jahresberichts in leicht gekürzter oder aktualisierter Form.

Kaum sahen wir das Schlimmste der Corona-Pandemie überstanden, ereilte uns anfangs 2022 mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine eine neue Krise, deren Ausmass wohl noch tiefgreifender ist. Nicht zufällig heisst das Leitthema des Jahresberichts «Multiple Krisen». Wie wirkt sich diese Situation der Unsicherheit und Instabilität für Ihre Branche / Ihr Unternehmen aus?

R. Süess: Die grösste Konsequenz waren die erneut betroffenen Lieferketten und die daraus resultierenden Lieferengpässe von Materialien, seien es Elektrobauteile, Commodities oder Baumaterial. Kaum hatte sich die Situation nach Corona etwas beruhigt, kam mit der Ukraine-Krise der nächste Schlag. Und zusätzlich gab es die Frage zu klären, wer von den Russland-Sanktionen betroffen war und wie – dies können Unternehmen sein, welche mit russischen Kunden zu tun hatten, Software aus Russland beziehen oder anderweitig Beziehungen mit Russland oder der Ukraine hatten. Wir selbst entschieden in Abstimmung mit dem Seco, die Sanktionen rasch umzusetzen, gleichzeitig aber die Konsequenzen mit den betroffenen Kunden proaktiv anzugehen. Als Unternehmer schätze ich von Seiten der Politik sehr, dass die Schweiz als Rechtsstaat verlässlich ist, mit Gesetzen und Prinzipien, die einem eine gewisse Sicherheit geben.

M. Wildi: Während Corona funktionierte die Zusammenarbeit und Absprache zwischen den Unternehmen und Branchen einerseits und mit der Politik anderseits sehr gut. Die Geschwindigkeit, mit der man beispielsweise Zahlungen an betroffene Firmen auslösen konnte, war exemplarisch. Diese Krise hat auch gezeigt wie verschiedene Akteure, die normalerweise Mitbewerber sind, plötzlich zusammenspannten und miteinander nach Lösungen suchten. Mit der Ukraine-Krise kam eine neue Dimension hinzu. Auch für die Banken stellte sich das Problem der Umsetzung der Sanktionen gegenüber Russland ganz konkret. Beispielsweise konnten von einem Tag auf den anderen die Maschinenexporte einer Schweizer Firma blockiert sein, weil die Exportfinanzierung über eine in der Schweiz tätige russische Bank abgewickelt wurde. Diese Krise zeigt einmal mehr, wie international vernetzt die Schweizer Wirtschaft ist.

Das Bildungssystem muss sich viel schneller den Bedürfnissen der Wirtschaft anpassen können – mehr Agilität ist auch dort gefragt. – Marianne Wildi

Eine konkrete Folge des Ukrainekriegs ist die drohende Energiemangellage. Die Schweizer Wirtschaft und die Industrie waren, bisher zumindest, vergleichsweise wenig oder nur indirekt tangiert. Wie erleben Sie die Situation, und wie beurteilen Sie hier die Rolle der Arbeitgeber?

R. Süess: Unsere Firma Green AG hat als Energiekonsument das ganze Spektrum der Energiemangellage zu spüren bekommen. Ähnlich wie bei der Coronakrise wurden wir gezwungen, gewisse Themen wie Nachhaltigkeit, Energiesouveränität oder Sicherheit richtig anzugehen – sie sind bei uns aber Teil unseres eigenen Dienstleistungsangebots und somit eine Chance. Als systemrelevante Firma stand es ausser Frage, unsere Server abzuschalten – vielmehr galt es zu schauen, wo wir helfen können. Neue Aufgaben wie die Stabilisierung des Netzwerks durch eigene Generatoren führten zu neuen Geschäftsopportunitäten und sogar zu neuen Prozessen auf politischer Ebene. Eine weitere Geschäftsquelle ergab sich durch neue Wärmenetze, die eine effizientere Kühlung und die direkte Lieferung von C02-neutraler Wärme an die Haushalte in der Umgebung erlauben. Wir wurden zudem für die Expertise im Bereich der ganzen Energiespar-Thematik zugezogen, was mich sehr freute.

M. Wildi: Gerade im Bereich der Energieversorgung zeigt die Krise, dass die Schweizer Unternehmen, wenn sie innovativ, flexibel und unternehmerisch handeln, vieles relativ rasch umsetzen können. Die Nähe zur Politik ist in der Schweiz gegeben – deshalb spielen auch Verbände wie der SAV eine wichtige Rolle. Der Dialog mit der Politik ist ein Vorteil, den wir entsprechend pflegen müssen. Nicht zuletzt aus diesem Grund ist unsere Wirtschaft so stabil, was gerade jetzt mit einer vergleichsweise tiefen Inflation und einer unabhängigen Geldpolitik zum Ausdruck kommt. In meinem Umfeld beobachte ich, dass sich auch Unternehmen, die keine grossen Energiebezüger sind, mit dem Thema des Energiesparens auseinandersetzen. Auch bei der Aargauischen Industrie- und Handelskammer (AIHK) haben wir in den vergangenen Monaten für unsere Mitglieder eine wichtige Verbindungsfunktion zur Politik wahrgenommen.

Roger Süess, Green (links), und Marianne Wildi, Hypothekarbank Lenzburg, im Interview. Beide sind seit 2022 im Vorstandsausschuss des SAV.

Der Fachkräfte- oder schlicht der Arbeitskräftemangel ist in der Schweiz wie auch in den benachbarten EU-Ländern ein Dauerthema – gerade im jetzigen instabilen Umfeld hat er sich in vielen Branchen gar zugespitzt. Wie macht er sich in Ihrer Branche spürbar?

M. Wildi: Im Vergleich zu den anderen Branchen steht man in der Bankenbranche noch vor keinem dringlicher Fachkräftemangel – aber gerade durch die Tatsache, dass die Generation der Babyboomer und damit auch viele Fachkräfte bald pensioniert werden, wird er auch bei uns zunehmend spürbar werden. Grundsätzlich haben ältere Mitarbeitende ein breiteres Fachwissen und eine grössere Erfahrung als die Jüngeren, die neu in die Arbeitswelt eintreten. Wenn man das nötige Wissen nicht mehr hereinholen kann, werden plötzlich Outsourcing oder Automatisierung zum Thema und Prozesse müssen überdacht werden. Zudem muss die Ausbildung der nötigen Kompetenzen angegangen werden. Bei den Banken gewinnen beispielsweise Quereinsteigerprogramme zusätzlich zu den Lehr- und Praktikumstellen an Bedeutung. Ein konkretes Beispiel: Bei der AIHK fördern wir gemeinsam mit unseren Mitgliedfirmen den Brack.ch ICT-Campus und engagieren uns in der Ausarbeitung neuer Berufsbilder, gerade im ICT-Bereich. Grundsätzlich müssen natürlich alle Branchen gegen den Fachkräftemangel aktiv werden.

R. Süess: Die ICT-Branche ist einerseits sehr schnelllebig – in der Ausbildung muss man daher die konstanten Veränderungen für die entsprechenden Fähigkeiten mitberücksichtigen. Andererseits gibt es zu wenig IT-Fachkräfte. Die Auslagerung von strategischeren Tätigkeiten in andere Länder hat zur Folge, dass auch für die nachgelagerten Rollen hierzulande keine Leute mehr gefunden werden. Es ist daher empfehlenswert, solche Offshoring Ergänzungen strategisch umzusetzen und bewusst Kompetenzen zu sichern. Bei unseren Partnern in der Baubranche hingegen beobachte ich, dass das duale Bildungssystem für den Erhalt von Fachkräften eine wichtige Rolle spielt. Auf der Baustelle erlernen die Mitarbeitenden genau die Fähigkeiten, die sie brauchen. Mit dieser Erfahrung können sie sich auf dem zweiten Bildungsweg zum Beispiel auch Planungs-, Projektleitungs- und Führungskompetenzen aneignen.

Das Durchmachen einer Krise lässt ein Unternehmen auch an Agilität und Fähigkeit zum Umgang mit Risiken gewinnen – Roger Süess

Die Arbeitgeber haben eine Anzahl Forderungen an die Adresse der Politik formuliert. Wo muss aus Ihrer Sicht der Hebel noch stärker angesetzt werden?

M. Wildi: Die Agilität, die wir bereits im Bereich des Unternehmertums angesprochen haben, müssten wir auch ins Bildungssystem übertragen können. Die Ausbildung muss sich viel schneller den Bedürfnissen der Wirtschaft anpassen können, was im heutigen System der Bildungspolitik leider recht schwierig ist. Eine Überlegung ist, die Studienplätze noch stärker an die Bedürfnisse der Wirtschaft anzupassen. Im Kanton Aargau gibt es, auch aufgrund der fehlenden Hochschulen, verschiedene Initiativen, die die Nähe zu den Bildungseinrichtungen fördern. Aber man muss insbesondere auf der Grundschulstufe noch aktiver werden. Es wird auch vermehrt der Austausch von Lernenden unter den Unternehmen genutzt.

R. Süess: Solche Austausche kennen auch wir, gerade bei den Ausbildungen für Mediamatiker, Informatiker oder Elektroinstallateure. Die Mediamatiker absolvieren sogar Teile ihrer Ausbildung bei verschiedenen Unternehmen. Dies ist auch ein Beispiel eines innovativen Ansatzes, wo die Wirtschaft vorangeht. Die Bildungsgremien müssen agiler werden und die Wirtschaft stärker einbeziehen – umgekehrt muss sich aber auch die Wirtschaft initiativ zeigen. Green arbeitet zum Beispiel mit Hochschulen und Universitäten zusammen, um konkrete Bedürfnisse der Wirtschaft im Bildungsbereich zu eruieren. Von der Politik wünsche ich mir als Arbeitgeber zudem Unterstützung bei der Immigrationspolitik, um den Zugang zu qualifizierten Fachkräften zu erleichtern, aber auch bei der Bildungspolitik, wo speziell die Lehre als Alternative zur Universität mehr Aufmerksamkeit verdient.

Das Thema der Löhne prägte das Arbeitgeberjahr 2022 ebenfalls stark. Wie sehr beschäftigten die Diskussionen und Forderungen im diesem Zusammenhang Ihre Branche und Ihr Unternehmen?

M. Wildi: Eigentlich müsste die Lohngleichheit selbstverständlich sein. Dem ist aber nicht so, weshalb es Kontroll- und Offenlegungspflichten gibt, um die Lohngleichheit nachzuweisen. Auch hier hat der Verband eine Aufgabe, indem er Unterstützung bietet und Muster zur Verfügung stellt. Natürlich gibt es Unterschiede, welche sich auf die Löhne auswirken, gerade zwischen den Regionen oder zwischen Stadt und Land. Aber die Löhne sind nur ein Teil des Gesamtpakets eines Arbeitgebers. Für die Branchen (in meinem Fall die Banken) ist es hilfreich, wenn der Branchenverband Lohnstudien macht, an deren Richtwerten man sich für die Lohnrunden orientieren kann.

R. Süess: Auch für mich ist die Lohngleichheit ein Muss. Mit dem Einbruch der Inflation entschieden wir uns im Unternehmen für eine generische Lohnrunde, bei welcher alle in den Genuss einer Lohnerhöhung kommen. Auch innerhalb der ICT-Branche werden aktive Lohnvergleiche vorgenommen. Und auch wir versuchen, bei der Rekrutierung das Gesamtpaket statt nur den Lohn hervorzuheben. Das Umfeld, die Unternehmenskultur und die Sinnhaftigkeit des Jobs sind mindestens so wichtig wie der Lohn – und in diese Bereiche investiere ich auch viel. Ich erachte es als wichtig zu verstehen, dass jegliche Lohnforderungen schlussendlich vom Unternehmen getragen werden müssen – sonst sind langfristig die Arbeitsplätze gefährdet, was wir alle nicht wollen.