Verschläft die Schweiz die Reform der Altersvorsorge?

30. Oktober 2018 Meinungen

Pünktlich im Herbst erscheint der Melbourne Mercer Global Pension Index, der seit zehn Jahren die Vorsorgesysteme verschiedener Länder vergleicht. Bis vor wenigen Jahren hat das Schweizer Drei-Säulen-System in der Rangliste stets einen Spitzenplatz belegt. Seither ist das Schweizer Erfolgsmodell jedoch auf dem absteigenden Ast. Dieses Jahr folgt gar der Fall aus den «Top Ten»: Platz 11. Die vordersten Ränge im Barometer belegen die Niederlande vor Dänemark und Finnland.

Einige mögen wegen solcher Rankings die Nase rümpfen – besonders, wenn sie ihnen keine Freude bereiten. Doch werfen die Autoren in ihrer Analyse ein beunruhigendes Schlaglicht auf die sich akzentuierenden Probleme der Schweizer Altersvorsorge. Laut dem Barometer ist der politische Reformstau dafür verantwortlich, dass die grosse demografische Herausforderung einer alternden Bevölkerung für die Altersvorsorge nicht angegangen, sondern immer weiter aufgeschoben wird.

Dabei zeigen Umfragen, dass die Schweizer Stimmbevölkerung die Konsequenzen der Alterung verstanden hat. Die Bereitschaft, für sichere Renten länger zu arbeiten, nimmt weiter zu. In zahlreichen Ländern hat die steigende Lebenserwartung bereits dazu geführt, dass die Menschen länger im Erwerbsleben bleiben und das Rentenalter steigt. So viel ist sicher: Um die Renten mittel- bis langfristig auf jetzigem Niveau zu sichern, führt auch in der Schweiz kein Weg an einer schrittweisen Erhöhung des Rentenalters vorbei.

Um dem Reformstau ein Ende zu setzen, hat der Bundesrat nach dem Scheitern der Reform Altersvorsorge 2020 zunächst voller Elan das Heft in die Hand genommen und auf Ende 2018 die Botschaft zur «AHV 21» angekündigt, damit die Reform auf 2021 in Kraft tritt. Den Sozialpartnern hat die Landesregierung zudem den Auftrag erteilt, einen Vorschlag für die Reform des BVG auszuarbeiten. Die Zeit drängt.

Neuerdings will der Bundesrat seine Botschaft jedoch erst im Frühling 2019 verabschieden. So kurz vor den Parlamentswahlen im nächsten Oktober werden sich die Politiker jedoch davor hüten, das heisse Eisen AHV 21 anzupacken. Bereits lässt CVP-Parteipräsident Gerhard Pfister in der Basler Zeitung verlauten, die Angleichung des Rentenalters auf 65/65 dürfe nicht vorweggenommen werden, es müsse nun «eine Reform nach der anderen» diskutiert werden. Damit lässt er durchblicken, dass die Politik die Reform auf die lange Bank schieben könnte. Der politische Elan, die Altersvorsorge ernsthaft zu reformieren, scheint verpufft. Diesen Befund widerspiegelt auch die mediale Berichterstattung: Im Oktober ist die Vernehmlassungsfrist zur AHV 21 abgelaufen. Meist berichten die Journalisten ausführlich über Vernehmlassungsantworten zu wichtigen Reformen. Die AHV 21 hat jedoch auffällig wenig Resonanz gefunden.

Die Hauptursache für den erlahmten Reformwillen der Politik ist schnell gefunden: STAF, also die Verknüpfung von Steuervorlage 17 und AHV-Finanzspritze. Um die Vorlage in der voraussichtlichen Volksabstimmung im Mai 2019 nicht zu gefährden, will die Politik die Debatte über eine Erhöhung des Rentenalters tunlichst vermeiden. Laut SP-Parteipräsident Christian Levrat wäre die Angleichung des Rentenalters für Männer und Frauen auf 65 Jahre mit der AHV-Finanzspritze gar endgültig vom Tisch.

Für einige stellt STAF ein dringend notwendiger Kompromiss dar. Für andere ist der Kuhhandel ein unvermeidbares Übel. Wiederum andere sehen darin eine Mogelpackung. Wie auch immer: Ebenso dringlich wie eine Steuerreform ist die strukturelle Sicherung der Renten. Letztere droht nun auf Jahre hinaus aufgeschoben zu werden, da die AHV-Finanzspritze die gravierenden Strukturprobleme in der Altersvorsorge übertüncht. Davon sind wir alle unmittelbar betroffen. Spätere Reformschritte werden umso teurer und schmerzhafter für die Bürgerinnen und Bürger sowie die Wirtschaft. Der neuste Barometer muss daher als Warnsignal verstanden werden.

 

STAF darf die Politik nicht dazu verleiten, die ebenso dringliche Reform der Altersvorsorge aufzuschieben.

Die Politik will ihre Steuerpolitik aus nachvollziehbaren Gründen in Einklang mit den OECD-Empfehlungen bringen. Wieso wird dieser Massstab nicht auch bei der grössten Herausforderung für die Wirtschaft und die Gesellschaft angewendet, der Bewältigung der demografischen Alterung? OECD-Konformität in der Altersvorsorge hiesse: Schrittweise länger arbeiten – und zwar bald. STAF darf die Politik nicht dazu verleiten, die ebenso dringliche Reform der Altersvorsorge aufzuschieben. Die Parlamentarierinnen und Parlamentarier stehen in der Pflicht, ab Mai 2019 ebenso engagiert an der Reformvorlage zur AHV zu arbeiten und sie ebenso rasch unter Dach und Fach zu bringen, wie sie dies bei STAF vorgemacht haben – Wahlen hin oder her.

Die von STAF vorgesehenen Lohnbeiträge als Zusatzfinanzierung für die AHV haben auch die Situation der Sozialpartner nicht vereinfacht, die an einer Lösung zur Reform der beruflichen Vorsorge arbeiten. Die Zweifel unter den Akteuren der zweiten Säule an einer baldigen Senkung des Mindestumwandlungssatzes mehren sich darob verständlicherweise. Mit der AXA hat sich bereits ein prominenter Vollversicherer aus dem Markt mit garantierten Renten verabschiedet. Und zugegeben: Die Sozialpartnerschaft mag den Anschein erwecken, früher auch schon besser und lösungsorientierter funktioniert zu haben. Trotzdem glauben wir unverändert an ihre Gestaltungskraft. Mit intensiver Arbeit ist ein wichtiger Schritt zur Sicherung der BVG-Renten möglich.