Fünf vor zwölf bei der AHV

26. Februar 2020 Medienbeiträge

Die Reform der AHV sollte etappenweise angegangen werden: Eine moderate Mehrwertsteuererhöhung, gekoppelt an die Angleichung des Frauenrentenalters auf 65 Jahre, wäre ein erster Schritt.

«Wo ist die Greta Thunberg der Altersvorsorge?», titelte diese Zeitung Anfang Oktober 2019 treffend. Denn der omnipräsente Nachhaltigkeitsgedanke ist noch nicht bei einem der drängendsten Probleme unseres Landes angekommen, der Stabilisierung der AHV. Genauso wie die dicken Eispanzer der Schweizer Gletscher schwinden, tut es die finanzielle Sicherheit der AHV – jener Säule, welche die Renten der immer älter werdenden Bevölkerung garantieren soll. Höchste Zeit, umzudenken: Die erste Säule muss endlich den demografischen Realitäten angepasst werden.

Demografische Alterung

Die AHV wird nach dem Umlageverfahren finanziert. Das heisst, die Erwerbstätigen und ihre Arbeitgeber kommen hauptsächlich mittels Lohnabzügen für die Renten der heutigen Pensionäre auf. Dieser Kreislauf funktionierte 1948, zum Zeitpunkt der Einführung der AHV, einwandfrei. Die Bezugsdauer war damals aufgrund der tieferen Lebenserwartung viel kürzer. Die Finanzierung einer Rente konnte auf sechs Schultern verteilt werden. Darauf folgten die boomenden 1950er und 1960er Jahre: Die Wirtschaft florierte, und immer mehr Erwerbstätige zahlten tüchtig in die AHV ein. Mit den Überschüssen konnte der AHV-Fonds aufgebaut werden.

Anfang der 1970er Jahre jedoch wendete sich das Blatt erstmals: Die stetig sinkende Geburtenrate bei gleichzeitig steigender Lebenserwartung sowie Ausbauvorlagen führten dazu, dass die laufenden Einnahmen die Renten nicht mehr vollständig deckten. Deshalb wurden die Lohnbeiträge erhöht und wurde einige Jahre später sogar die Mehrwertsteuer als Einnahmequelle angezapft. Die demografische Alterung schritt derweil immer weiter voran, so dass heute nur noch drei Erwerbstätige für eine Rente aufkommen. Die Lebenserwartung der 65-Jährigen ist seit 1948 um acht Jahre gestiegen, während das generelle Rentenalter nicht angehoben wurde.

Seit 2014 ist das AHV-Umlageergebnis im Minus – und dieses wurde von Jahr zu Jahr grösser. 2017 betrug die Lücke bereits mehr als eine Milliarde Franken. Dank den Zusatzeinnahmen in der Höhe von zwei Milliarden Franken, die im Rahmen der letzten Unternehmenssteuerreform (STAF) beschlossen wurden, kann sich die AHV bis etwa 2022 finanziell wieder über Wasser halten. Die Finanzspritze ist jedoch nur ein Tropfen auf den heissen Stein, denn die grosse Pensionierungswelle der Babyboomer rollt ab 2020 erst richtig an. Innert weniger Jahre wird die Zahl der Rentner um eine Million Menschen wachsen. In Kombination mit einer tieferen Zuwanderung und unsicheren Wirtschaftsaussichten wird sich die jährliche AHV-Finanzierungslücke bis 2030 auf über fünf Milliarden Franken und 2035 sogar auf über zehn Milliarden Franken vergrössern – im besten Fall.

Keine Pflästerlipolitik

Um Defizite in dieser Grössenordnung auszugleichen, müsste die Mehrwertsteuer um bis zu drei Prozentpunkte erhöht oder das Rentenalter um beinahe vier Jahre für Frau und Mann angehoben werden. Das zeigt: Eine «Pflästerlipolitik» à la Staf-Finanzspritze bietet keine Antwort auf die strukturellen Probleme der AHV. Je länger eine rechtzeitig beginnende, schrittweise Rentenaltererhöhung ein Tabuthema bleibt, desto härter werden die erforderlichen Massnahmen die Bürgerinnen und Bürger einst in Form noch viel happigerer Steuererhöhungen oder aber eines plötzlich in einem Schritt stark steigenden Rentenalters treffen. Weshalb? Einerseits steigt die Zahl der Neurentnerinnen und Neurentner zwischen 2020 und 2035 massiv. Anderseits nimmt eine schrittweise Erhöhung des Rentenalters auf beispielsweise 66 Jahre für Frau und Mann – nach der erfolgten Angleichung des Rentenalters auf 65 Jahre für Frau und Mann – weitere vier bis sechs Jahre in Anspruch.

Wird damit erst 2030 begonnen, werden viele Babyboomer bereits in Rente sein und damit keinen Beitrag zur Stabilisierung der AHV leisten. Entsprechend könnte eine Rentenaltererhöhung auf 66 die Finanzierungslücke von über zehn Milliarden Franken per 2035 nicht einmal um einen Viertel reduzieren. Zur Schliessung der restlichen Lücke müsste die Mehrwertsteuer um rund zwei Prozentpunkte angehoben werden.

Was die Landesregierung als gegenwärtigen Reformvorschlag präsentiert, lässt diese Fakten ausser acht. Die Reform AHV 21 setzt, wie schon die gescheiterte AV2020, grossmehrheitlich auf Zusatzeinnahmen. Damit soll die Finanzierung der AHV bis 2030 gesichert werden. Aufgrund der zwischen 2030 und 2035 noch einmal massiv ansteigenden Finanzierungslücke von fünf Milliarden Franken pro Jahr käme eine strukturell wirkende schrittweise Erhöhung des Rentenalters zu spät. Die Finanzierungslücke könnte nur noch mit einer happigen weiteren Mehrwertsteuererhöhung von rund zwei Prozent geschlossen werden. Doch damit nicht genug: Der Bundesrat will gar noch den Rentenvorbezug attraktiver machen. Das erstaunt umso mehr, als der Bundesrat im Vernehmlassungsbericht zur AHV 21 selbst noch darauf hingewiesen hatte, dass in vielen OECD-Ländern nicht nur das Rentenalter angehoben wird, sondern gleichzeitig auch die Vorbezugsmöglichkeiten erschwert werden. In ihrem jüngsten Länderbericht zur Schweiz rät die OECD denn auch eindringlich zu diesen beiden Schritten. Weshalb aber ignoriert der Bundesrat diese Warnsignale und Empfehlungen und spielt bei der AHV, dem wichtigsten Sozialwerk unseres Landes, mit dem Feuer?

Die Erhöhung der Mehrwertsteuer scheint aus politischer Sicht der Weg des geringsten Widerstands zu sein. Zumindest einfacher als die rechtzeitig wirkende, schrittweise Erhöhung des Rentenalters. In der Schweiz sei der Mehrwertsteuersatz im internationalen Vergleich verhältnismässig tief, wird häufig argumentiert. Diese Betrachtung greift allerdings zu kurz, denn die Schweiz ist längst kein Steuer- und Abgabenparadies mehr. Werden sämtliche obligatorischen Abgaben inklusive der Krankenkassenprämien und der Lohnbeiträge für die berufliche Vorsorge summiert, befindet sich die Schweiz im internationalen Vergleich nur noch im hinteren Mittelfeld. Die Zwangsabgaben sind in der Schweiz inzwischen sogar höher als in Deutschland und liegen deutlich über dem Durchschnitt aller OECD-Länder. Besorgniserregend ist vor allem der Umstand, dass in den letzten 20 Jahren die Fiskalquote – mit Ausnahme von Portugal – nirgends derart stark gewachsen ist wie in der Schweiz.

Für eine ausgewogene Reform in Etappen

Eine Politik, die bei der AHV wiederum praktisch ausschliesslich auf die Karte Zusatzfinanzierung setzt, würde damit nicht nur die strukturellen Probleme der AHV weiter vor sich herschieben, sondern auch der Schweiz insgesamt schaden. Zwangsläufig müsste die Mehrwertsteuer bereits in wenigen Jahren drastisch weiter angehoben werden. Die dadurch steigende Fiskalquote würde die inländische Kaufkraft senken und die Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz im internationalen Umfeld massgeblich schwächen – schlechte Aussichten also für den Denk- und Werkplatz Schweiz.

In Anbetracht dieser Herausforderungen schlägt der Schweizerische Arbeitgeberverband einen ausgewogenen Reformweg in Etappen vor. In einem ersten Schritt soll die AHV finanziell stabilisiert werden. Hierfür genügt eine moderate Mehrwertsteuererhöhung um 0,3 Prozentpunkte, gekoppelt an die Angleichung des Frauenrentenalters auf 65 Jahre. Letztere könnte auch mit einer gezielten Ausgleichsmassnahme verbunden sein. Dieser ausgaben- und einnahmenseitig ausgewogene Reformschritt würde die AHV-Finanzierung bis mindestens 2027 stabilisieren. Bis dann muss die politische Diskussion so weit fortgeschritten sein, dass eine zweite Reformetappe in Kraft gesetzt werden kann, die auch eine schrittweise allgemeine Rentenaltererhöhung mit einschliesst.

Der Umstand, dass die Angst um die künftige Altersvorsorge in den vergangenen Jahren stets auf den Spitzenplätzen des Sorgenbarometers der Schweizer Bevölkerung rangierte, dürfte deutlich genug den Volkswillen vor Augen führen: Sichere Renten – auch in Zukunft! Das bedarf jedoch ausgewogener Lösungen, auch zwischen den Generationen. Denn der Nachhaltigkeitsgedanke endet nicht beim Klima. Er müsste längst auch bei der AHV zuoberst auf der politischen Agenda stehen. Es ist an der Zeit, dass die Stimme der Jungen nicht nur mit Blick aufs Klima in der Politik Gehör findet, sondern auch punkto nachhaltiger Sicherung der AHV.

Der Gastbeitrag von Frédéric Pittet erschien in der NZZ.