Eventualvorsatz im AHV-Abstimmungskampf

2. September 2022 Meinungen

Der Abstimmungskampf zur AHV tritt in die entscheidende Phase. Dabei zeigt sich: Für die Linke geht es um nichts weniger als die Deutungshoheit in der Schweizer Sozialpolitik. Man will die erste Säule durchaus retten, ja sogar ausbauen – und dafür offenbar zuerst an die Wand fahren.

Wenn sich der Komiker Mike Müller auf Twitter zur AHV äussert, beginnt offensichtlich die heisse Phase des Abstimmungskampfes. Hintergrund seiner Äusserung war ein Tweet des SP Co-Präsidenten Cédric Wermuth zur Abstimmungsvorlage vom 25. September. Dieser behauptete, der AHV gehe es gar nicht so schlecht. «Die AHV ist kerngesund», antwortete Müller, «von der Herz-Lungen-Maschine jetzt mal abgesehen». Die Diskussion steht symptomatisch für den aktuellen Stand der Debatte: Wenn Logik nicht mehr weiterhilft, nützt vielleicht Komik.

Eine gewisse Zuspitzung gehört sicher zu einem Abstimmungskampf, einverstanden. Wenn man aber landauf-landab Plakate aufhängt, auf denen mit einer generellen Rentenaltererhöhung gedroht wird, – die nun einmal wirklich nicht Teil der aktuellen Vorlage ist – dürfte eine neue Stufe der Unverfrorenheit erreicht sein. Daran ändert auch das Argument nichts, mit der Zustimmung zu AHV 21 würde man Tür und Tor für solche Diskussionen öffnen. Mit der gleichen Logik etwa könnte man auch die Beschaffung neuer Kampfflugzeuge ablehnen: Die Armeeführung könnte ja später auf die Idee kommen, einen Flugzeugträger zu beschaffen, um die Jets auf dem Hallwilersee zu parkieren.

Man mag sich nun fragen, warum diese Zuspitzung und Emotionalität für ein eigentlich so trockenes Thema wie die AHV-Revision aufgewendet wird. Natürlich handelt es sich neben Klima und Europa um eine der wichtigsten Vorlagen der laufenden Legislatur. Es geht um die finanzielle Stabilität unseres grössten Sozialwerks. Im Kern geht es aber um mehr. Es geht um die Deutungshoheit in der Sozialpolitik dieses Landes. Während Jahrzehnten konnte sich die Linke sicher sein, die Entwicklung der Sozialwerke entweder selber voranzutreiben oder, im Falle einer Missbilligung, verhindern zu können.

Unabhängig davon, welches Resultat der 25. September bringt: Vieles deutet darauf hin, dass diese Zeiten vorbei sind. Die ersten Meinungsumfragen legen nahe, dass der aktuelle Kollisionskurs der Linken selbst in eigenen Kreisen nicht gut ankommt. Genau an dieser Stelle zeigt sich nämlich die Widersprüchlichkeit der politischen Haltung: Wenn es um die finanzielle Situation der Rentnerinnen und Rentner in der Schweiz tatsächlich so desolat steht und die Ungleichbehandlung der Geschlechter im Vorsorgesystem so akut ist, wie die Linke immer behauptet, warum tut sie dann nichts dagegen? Warum ist die Antwort auf einen vermeintlichen Missstand lieber Stillstand?

Eine überzeugende Antwort darauf gibt es nicht. Erleidet die aktuelle Reform am 25. September Schiffbruch, geht es der AHV genauso schlecht, wie es ihr heute bereits geht. Gewonnen ist nichts. Gelingt die Reform, wird die erste Säule zumindest für einige Jahre stabilisiert. Das müsste eigentlich auch den Gewerkschaften entgegenkommen, erhoffen sie sich doch insgeheim einen Leistungsausbau bei den AHV-Renten, wie sie auch immer wieder mit diversen Vorstössen zeigen. Am Ende scheint man den finanziellen Kollaps der AHV einfach zu riskieren – «billigendes Inkaufnehmen», nennen das die Juristinnen und Juristen offenbar bei einem sogenannten Eventualvorsatz. Dem gilt es in der Sozialpolitik genau so entschieden entgegenzutreten wie im Strafrecht. Daher: 2x JA zur AHV 21!