Lohnforderungen entgegen den betrieblichen Realitäten

6. Juli 2023 News

Angesichts der sinkenden Reallöhne der letzten beiden Jahre wollen die Gewerkschaften «in die Offensive» gehen. Sie wollen neben der Preisentwicklung auch steigende Mieten und Krankenkassenprämien durch die Arbeitgeber kompensiert sehen. Und vergessen dabei ebenso die Reallohnsteigerung zwischen 2012 und 2021 wie auch die Schädlichkeit übertriebener Lohnforderungen für den Schweizer Wirtschaftsmotor.

Die Inflation ist nicht tot. Dies wollte die Welt zwar Mitte 2021 noch nicht wahrhaben, aber seither hat die Realität alle Zweifler eingeholt. Auch die Schweiz wurde nicht vollständig verschont. Und mit der Inflation mehren sich auch in der Schweiz die Stimmen – allen voran jene der Gewerkschaften – welche Reallohneinbussen beklagen und darauf basierend hohe Nominallohnerhöhungen der Arbeitgeber fordern. Die Lohnerhöhungen sollen nicht bloss den Reallohnverlust kompensieren, sondern auch höhere Mieten und Krankenkassenprämien finanzieren. Die Forderungen der Gewerkschaften belaufen sich auf Erhöhungen von im Mittel zwischen 4 bis 5 Prozent. Doch sind diese gerechtfertigt? Und sind sie für die Unternehmen überhaupt tragbar?

Im Schnitt der letzten 10 Jahre deutliche Reallohnsteigerungen
Beides ist klar zu verneinen. Lassen Sie uns dazu zuerst die Reallohnentwicklung und die Entwicklung der Inflation in der Schweiz anschauen. Es stimmt, dass in der Schweiz die Reallöhne 2021 leicht und 2022 etwas stärker gesunken sind: Für 2022 resultierte bei einer Nominallohnerhöhung von 1,5 Prozent und einer Teuerung von 2,8 Prozent ein Reallohnverlust von 1,3 Prozent; 2021 belief sich der Reallohnverlust auf 0,8 Prozent. Betrachtet man jedoch die Entwicklung der Reallöhne der letzten zehn Jahre, so resultierte für die Arbeitnehmenden von 2012 bis 2021 als Folge der negativen durchschnittlichen Teuerung von -0,1 Prozent und einer durchschnittlichen Nominallohnerhöhung von 0,6 Prozent ein durchschnittliches jährliches Reallohnwachstum von 0,7 Prozent. Und selbst wenn zusätzlich noch das wirtschaftlich aussergewöhnliche Jahr 2022 mitberücksichtigt wird, so sind es durchschnittlich immer noch 0,4 Prozent Reallohnwachstum pro Jahr.

Für 2023 und 2024 zeichnet sich zudem eine Entspannung ab: Die Schweiz ist mit der im Ländervergleich relativ tiefen Teuerung in einer komfortablen Situation. Gerade im Juni ging sie nochmals substanziell zurück. Sie liegt nun erstmals seit Januar 2022 unter der 2-Prozent-Marke. Im Juni 2023 sank die Jahresinflation von 2,2 auf 1,7 Prozent. Laut einer im März 2023 veröffentlichten Prognose des Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO) sollen die Konsumentenpreise in der Schweiz fürs Gesamtjahr 2023 um 2,4 Prozent gegenüber dem Vorjahr steigen. Und 2024 wird sie mit 1,5 Prozent nochmals tiefer prognostiziert.

Lohnsteigerungen müssen immer zuerst erwirtschaftet werden
Auffällig ist, dass in den Lohnverhandlungen für Kostensteigerungen unterschiedlichster Art zunehmend die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber in die Pflicht genommen werden. Die Meinung, dass sie etwa für steigende Krankenkassenprämien, höhere Mieten oder die insgesamt gestiegenen Lebenshaltungskosten in Form von höheren Löhnen aufkommen müssten, ist absurd und entspricht einer falschen Logik. Abgesehen davon, dass die Arbeitgebenden höhere Löhne unter den gegebenen wirtschaftlichen Voraussetzungen immer auch zuerst erwirtschaften müssen, müssen Kostenverwerfungen wie etwa im Bereich der Krankenkassenprämien oder den hohen Mieten gezielt und nachhaltig bei der Ursache bekämpft werden.

Für 2023 gab es für die Arbeitnehmenden substanzielle Lohnerhöhungen. Ein wichtiger Treiber war dabei die im Vergleich zu anderen Jahren gestiegene Verhandlungsmacht der Arbeitnehmenden in den Lohnverhandlungen. Dies als Folge des stark ausgetrockneten Arbeitsmarkts und des damit einhergehenden Engpasses an Arbeitskräften. Lohnforderungen von vier und mehr Prozent sind dennoch eine klare Absage zu erteilen. Sie sind angesichts der wirtschaftlichen Gegebenheiten, der sich abzeichnenden konjunkturellen Abkühlung und der unterdurchschnittlichen Produktivitätsentwicklung nicht gerechtfertigt und würden in der geforderten Höhe zum Problem vieler Firmen. Wie hoch der Spielraum für Lohnerhöhungen im kommenden Herbst sein wird, hängt massgeblich vom wirtschaftlichen Verlauf im zweiten Halbjahr ab. Zurzeit lassen die meisten Indikatoren eine konjunkturelle Abkühlung erwarten.

Gegenwärtig stabile Lohnschere
Was ist aber dran an der durch die Gewerkschaften bei Lohnforderungen ins Feld geführten ungenügenden Lohnentwicklung bei den tiefen Einkommen? Die Lohnstrukturerhebung des Bundesamts für Statistik zeigt, dass sich die Lohnschere im Zeitraum zwischen 2008 und 2020 kaum verändert hat. Gleichzeitig schrumpfte der Tieflohnsektor in den letzten Jahren erfreulicherweise. Auch steigen die Löhne als Folge des Arbeitskräftemangels über alle Einkommensklassen gleichmässig an.

Die Forderung der Gewerkschaften nach flächendeckenden Mindestlöhnen steht deshalb quer in der Landschaft. Solche Mindestlöhne könnten am ehesten dann eine Berechtigung haben, wenn Arbeitnehmende der untersten Einkommensklassen mit dem Lohn aus einem Vollzeitjob kein anständiges Leben mehr führen könnten, sondern mehrere Jobs gleichzeitig ausüben müssten. Von einem solchen Zustand sind wir in der Schweiz zum Glück weit entfernt.