Es ist höchste Zeit für die Individual­besteuerung

4. April 2022 Meinungen
Von Simon Wey

Seit etwas mehr als einem Jahr läuft die Unterschriftensammlung für die Initiative zur Einführung einer Individualbesteuerung. Der Schweizerische Arbeitgeberverband (SAV) unterstützt das Vorhaben als wichtigen Schritt zur Ausschöpfung des inländischen Arbeitskräftepotenzials und zur Abschaffung der Benachteiligung von Zweitverdienenden. Dafür gibt es viele gute Gründe.

Die Ausgangslage ist klar: Mit der Alterung der Gesellschaft, der tendenziell rückläufigen Zuwanderung und dem grossen Stellenwachstum der Schweizer Wirtschaft beschleunigt sich der Arbeitskräftemangel zunehmend. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, muss das inländische Arbeitskräftepotenzial besser erschlossen werden. Gemäss Bundesamt für Statistik ist ein verbesserter Arbeitsmarktzugang für Frauen der vielversprechendste Weg. Frauen in der Schweiz haben OECD-weit zwar die höchste Erwerbstätigenquote, deren Arbeitspensen sind gleichzeitig aber überdurchschnittlich tief.

Es gibt eine Reihe von wirksamen Massnahmen zur stärkeren Einbindung von Frauen in den Arbeitsmarkt. Dabei müssen die unterschiedlichsten Stellschrauben gleichzeitig, aber auch in die richtige Richtung gedreht werden. Deshalb führt der SAV im Parlament zum einen die Allianz «familienergänzende Kinderbetreuung» an, die Massnahmen zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf entwickelt und diese in den parlamentarischen Prozess einbringt. Zum anderen macht sich der Dachverband für höhere Abzüge der Drittbetreuungskosten bei den Steuern stark.

Ein weiterer Ansatzpunkt bietet die Initiative zur Einführung einer Individualbesteuerung, deren Unterschriftensammlung am 9. März 2021 gestartet wurde. Der SAV unterstützt dieses Vorhaben, könnte doch die Wirtschaft dadurch mit bis zu 60’000 zusätzlichen vollzeitäquivalenten Arbeitskräften rechnen. Die Höhe dieser Zahl hängt jedoch wesentlich davon ab, ob genügend Drittbetreuungsplätze zu erschwinglichen Preisen vorhanden sind.

Der Luxus, wegen eines überholten Systems zur Besteuerung der Ehegatten auf einen substanziellen Teil von Arbeitskräften zu verzichten, ist nicht länger haltbar.

Mit einer Individualbesteuerung würden Zweitverdienende, ganz unabhängig vom Zivilstand, nach ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit besteuert. Damit würde deren Besteuerung bei einem deutlich tieferen Grenzsteuersatz einsetzen, als dies mit dem heutigen Steuersystem der Fall ist. Infolgedessen würde den Zweitverdienenden mehr vom Arbeitseinkommen zur Verfügung stehen, womit der Erwerbsanreiz deutlich zunähme. Das würde besonders das Verhalten der Mütter verändern. In der Schweiz sind 93 Prozent der Paare mit Kindern verheiratet, wobei in diesen Familien meist die Frau die Zweitverdienerin ist. Dies zeigt sich auch daran, dass Frauen deutlich höhere Teilzeitaktivitäten vorweisen.

Die Individualbesteuerung ist auch dem Vollsplitting überlegen. Ein Vergleich der beiden Modelle zeigt, dass das Vollsplitting mit Blick auf die Erwerbsanreize dem heutigen Steuersystem zwar überlegen ist, gegenüber der Individualbesteuerung jedoch nicht mithalten kann. Indem beim Vollsplitting der Mittelwert der beiden Einkommen der Eheleute als Steuerberechnungsgrundlage genommen wird, muss insbesondere die zweitverdienende Person pro zusätzlich verdientem Steuerfranken mehr Geld dem Fiskus abführen als bei der Individualbesteuerung.

Zuweilen wird die Kritik laut, die Einführung einer Individualbesteuerung würde mit den heutigen Grenzsteuersätzen zu erheblichen Steuerausfällen führen. Dem ist so: zwar nähme das Steuersubtrat als Folge der höheren Arbeitspensen der Zweitverdienenden zu, jedoch würde dies nicht zur vollständigen Kompensation der Steuerausfälle reichen. Um dies zu verhindern, müsste das Steuersystems insgesamt neu justiert werden. Als Konsequenz würde ein anderer Teil der Steuerpflichtigen im Vergleich zum heutigen System schlechter gestellt. Daran führt jedoch kein Weg vorbei, denn für den SAV darf die Einführung einer Individualbesteuerung keiner versteckten Steuersenkung gleichkommen.

Der Luxus, wegen eines überholten Systems zur Besteuerung der Ehegatten auf einen substanziellen Teil von Arbeitskräften zu verzichten, ist nicht länger haltbar. Verbesserungen sind notwendig, um zum einen den sich stark akzentuierenden Fachkräftemangel zu lindern und zum anderen die Forderung der Frauen nach Gleichstellung aufzunehmen. Es ist an der Zeit, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit als Bemessungsgrundlage bei der Besteuerung anzuerkennen, wie dies die Initiative sicherstellt. Damit werden nicht nur Anreize für ein stärkeres Engagement im Arbeitsmarkt geschaffen, sondern es wird auch ein massgeblicher Beitrag zur Gleichstellung zwischen den Geschlechtern geleistet.