Steine werfen im Glashaus

1. November 2010 Meinungen

Bundesrat-Bashing ist in den letzten Jahren zur schweizerischen Mode geworden – und in der vordersten Angriffslinie sind häufig Mitglieder des Parlaments aktiv. Dabei sollten sie selbst über die Bücher.

Im Rhythmus der Sonntagspresse oder noch öfter nehmen Parlamentarier die Landesregierung unter ein Trommelfeuer von Vorwürfen, die bei der Unfähigkeit beginnen und über die Missachtung des Volkswillens bis zum mangelnden Einsatz für die Landesinteressen reichen. Nähme man diese Kritik ernst, dann stünde es wahrlich schlecht um unser Land. Aber müssen wir sie wirklich ernst nehmen?

Die Glaubwürdigkeit von Kritikern lässt sich unter anderem auch an der Qualität ihrer eigenen Arbeit messen. Die kritisierenden Parlamentarier müssen sich also der Frage stellen, wie es um ihre Leistungen oder um ihren Einsatz für das Landeswohl steht. Hier fällt die Antwort mit Blick auf die zurückliegenden Monate ernüchternd aus. Bereits während der Sommersession war im Hick-Hack um den Staatsvertrag mit den USA kaum mehr auszumachen, ob parteipolitische Abrechnungen oder die Lösung eines ernsten Problems im Vordergrund standen. Und in der Herbstsession hat der Nationalrat einen sozialpolitischen Scherbenhaufen produziert, dessen Beseitigung uns noch Jahre beschäftigen wird.

Verpasste Chancen
Nach über sechsjähriger Arbeit lehnte der Nationalrat die 11. AHV-Revision mit einer unheiligen Allianz der Polparteien ab. Dabei lag ein Kompromissvorschlag auf dem Tisch, der eine tragfähige parlamentarische Mehrheit verdient hätte. Die vom Ständerat grossmehrheitlich gutgeheissene Revisionsvorlage entsprach nicht ganz den Vorstellungen der Arbeitgeber, weil sie die Anpassung des Frauen-Rentenalters mit der auf zehn Jahre befristeten Subventionierung von Frühpensionierungen verknüpfte. Aber unter dem Strich hätte sie die AHV-Rechnung doch um mehrere Millionen Franken entlastet. Anstatt den Spatz in der Hand zu nehmen, beharrten die Polparteien auf ihren Positionen, sodass die 11. AHV-Revision ein zweites Mal in ihrer zehnjährigen Geschichte scheiterte. Eine verpasste Chance auf dem Weg zur langfristigen Sanierung der AHV!

Dem überraschenden Zangenangriff der Polparteien fiel in der grossen Kammer auch das Massnahmenpaket zur Entlastung der Krankenversicherung zum Opfer. Seit 2009 hatte das Parlament an diesen Massnahmen gefeilt, welche die Krankenversicherung jährlich um 240 bis 295 Mio. Franken entlastet hätten. Der Nationalrat lehnte das Paket ab, das der Ständerat zuvor ohne Gegenstimme (!) angenommen hatte. Fast zeitgleich musste der zuständige Bundesrat eine durchschnittliche Erhöhung der Krankenkassenprämien um 6,5% ankündigen!

Unglaubwürdige Kritik
Wer ohne Not dringliche Revisionen zu Fall bringt und wieder dem Bundesrat zuschiebt, ist als Kritiker der Landesregierung wenig glaubwürdig. Aufmerksame Beobachter der eidgenössischen Polit-Szene stellen sich vielmehr die Frage, ob die Problemzone unter der Bundeshauskuppel wirklich im Bundesratszimmer liegt, oder ob sie nicht eher im Nationalratssaal zu orten ist. Jedenfalls könnten viele Mitglieder der grossen Kammer den Rat beherzigen, dass nicht mit Steinen werfen soll, wer selbst im Glashaus sitzt.