Das Märchen von der Rentenkürzung

27. Januar 2022 Meinungen

Wer kleine Kinder hat, kennt das Spiel: Man steht mehrmals pro Nacht auf, um irgendwelche Monster unter dem Bett zu verscheuchen – obwohl da natürlich nichts als ein paar Staubweben sind. Die Kleinen aber sind vom Gegenteil überzeugt und dankbar, wenn man nachschaut.

Eine ähnliche Situation spielt sich gerade in der Schweizer Altersvorsorge ab: Bei jedem neuen Reformversuch, sei es in der AHV oder der beruflichen Vorsorge, werden Rentenkürzungen vermutet. So startete das Jahr mit der Ankündigung eines Referendums gegen die aktuelle AHV Revision. Diese sei eine «Mogelpackung» und «Abbauvorlage» für die Frauen, titelten die Gewerkschaften und befürchteten «Rentenkürzungen von jährlich rund 1’200 Franken».

Bei genauer Betrachtung dieser Aussage ist genau das Gegenteil der Fall. Die Vorlage sieht eine stufenweise Angleichung des Rentenalters für Frauen an dasjenige der Männer vor. Im Gegenzug gewährt sie einer Übergangsgeneration von neun Jahrgängen Ausgleichsmassnahmen im Wert von über 500 Millionen Franken – jährlich wiederkehrend, lebenslang. Die AHV, die sich aufgrund der steigenden Lebenserwartung ohnehin in finanzieller Schieflage befindet, bürdet sich damit für die nächsten 35 bis 40 Jahre eine zusätzliche Last auf. Konkret kommen die betroffenen Frauen in Genuss von Zuschlägen, die die Altersrente um bis zu 1’920 Franken pro Jahr anheben. Hinzu kommen reduzierte Kürzungssätze für den Fall eines Rentenvorbezugs. Diese sind so ausgestaltet, dass nur Frauen mit einem vergleichsweise hohen Einkommen schlechter gestellt sind, wenn sie sich früher pensionieren lassen. Für den Grossteil der betroffenen Jahrgänge hat also die Angleichung des Rentenalters eine positive Auswirkung auf die Höhe der Altersrente.

Des Weiteren gilt, dass gerade Frauen mit Erwerbsunterbrüchen durch das zusätzliche Erwerbsjahr Beitragslücken wettmachen oder das massgebliche Einkommen erhöhen können. Auch in der beruflichen Vorsorge hat ein zusätzliches Beitragsjahr eine positive Wirkung auf die Rentenhöhe – dies werden all jene bestätigen können, die über eine Frühpensionierung nachdenken.

Für den Grossteil der betroffenen Jahrgänge hat die Angleichung des Rentenalters eine positive Auswirkung auf die Höhe der Altersrente.

Länger arbeiten lohnt sich also in unserem Rentensystem. Aber warum bemühen dann die diversen Akteure das Märchen von den Rentenkürzungen? Eine Erklärung dürfte in den Umfragen liegen, wie sie beispielswiese die AXA regelmässig erhebt. Dort wird unter anderem auch die Akzeptanz einzelner Reformmassnahmen abgefragt. Während ein früheres Sparen oder freiwillige Mehrbeiträge schon länger eine Mehrheit finden, zeichnet sich beim höheren Rentenalter eine Trendwende ab: So stieg alleine zwischen 2018 und 2020 der Anteil der Personen, die zu einer generellen Rentenaltererhöhung (also für Frauen und Männer) «eher ja» oder «sicher ja» sagen würden, von 26 auf 45 Prozent. Die Erhöhung des Rentenalters scheint also in der Gesellschaft kein Tabu mehr zu sein. Für die Linke ist das natürlich eine schlechte Nachricht, konnte sie sich der Ablehnung eines höheren Rentenalters in der Vergangenheit doch immer sicher sein.

Es gibt allerdings eine Massnahme, die bei den Befragten seit eh und je auf entschiedene Ablehnung stösst: eine Rentenkürzung. Gegen 80 Prozent der Stimmen gaben an, diese Massnahme nicht zu unterstützen. Für gewiefte Taktiker liegt die Lösung also relativ nahe: Man nehme eine Vorsorgereform und rede den Leuten lange genug ein, es gehe hierbei um eine Rentenkürzung. Auch wenn dies mit der Realität wenig zu tun hat, wird man damit ein paar Stimmen gewinnen. Der Plan geht allerdings nur so lange auf, bis ihn die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger durchschauen. Dann kommen sie sich ziemlich veräppelt vor. Oder, um auf die eingangs erwähnten Kinder zurückzukommen: Irgendwann werden sie älter und fragen sich, warum die Eltern Nacht für Nacht nach imaginären Monstern geschaut haben.