Rückbesinnung auf die Schweizer Kompromisskultur

27. November 2017 Medienbeiträge

Reformstau, hauchdünne Mehrheiten und unpopuläre Umsetzungen von Volksentscheiden sind offensichtliche Anzeichen einer Malaise in der Schweizer Politik. Zu ihrer Überwindung müssen sich die Volksvertreter auf ihre traditionelle Stärke besinnen: die Verständigung auf tragfähige Kompromisse.

Die Schweiz hat wie kein zweites Land auf der Welt eine Kultur des tragfähigen Kompromisses verinnerlicht. Wichtige Elemente einer Konkordanzdemokratie wie der Föderalismus, ein ausgeprägter Minderheitenschutz oder eine Mehrparteienregierung verleihen der Schweiz Stabilität und Kontinuität. Die Einbindung verschiedenster Akteure fördert die politische Konsensfindung. Eine zunehmende Polarisierung der Parteien und schnell ändernde Koalitionen haben jedoch dazu geführt, dass breit abgestützte Reformen und echte Kompromisse im Parlament nicht mehr selbstverständlich sind.

Kokurrenzkampf der Parteien
Jüngste Beispiele für diese Malaise sind die verfassungsferne Umsetzung der Initiative gegen Masseneinwanderung, die an der Urne gescheiterte Unternehmenssteuerreform III und die Reform der Altersvorsorge 2020. Der Rechtsrutsch in den Parlamentswahlen im Oktober 2015 legte noch den Schluss nahe, wirtschaftsfreundliche Reformen und Deregulierungen würden nun durchdachter, leichter und breiter abgestützt realisierbar. Doch der Konkurrenzkampf zwischen den bürgerlichen Parteien führte zu wechselnden Koalitionen mit der SP statt zu einer gemeinsamen bürgerlichen Politik. Parteipolitik dominiert Sachpolitik.

Knappe Mehrheitsentscheide statt echte Kompromisse
Die ungewöhnlichen Koalitionen könnten nun als Abbild einer typisch schweizerischen Kompromisskultur interpretiert werden. Nur handelt es sich bei näherem Hinsehen nicht um echte Kompromisse, die dieser Bezeichnung gerecht würden, sondern um knallhart kalkulierte Mehrheitsentscheide. So nahm die Rentenreform im Nationalrat just auf die Stimme genau die nötige Hürde von 101 Stimmen. Zuvor kam es in einer historischen Einigungskonferenz mit vierzehn zu zwölf Stimmen zum knappestmöglichen Stichentscheid. Grund dafür waren die Mehrheitsverhältnisse in den beiden Kammern, die von einer Mitte-links-Koalition im Ständerat dominiert wurden. Diese Koalition hatte bereits im Sommer 2015 den «Kompromiss mit sich selbst» geschlossen und sich danach aus blossem Machtkalkül während zweier Jahre keinen Zentimeter von ihrer Maximalforderung nach einem AHV-Ausbau entfernt.

Eine Frage des politischen Willens
Eine politisch derart umstrittene Reformvorlage dem Volk vorzusetzen, war ein zu grosses Wagnis, das zurecht scheiterte. Statt solcher Dreistigkeiten braucht es in der Politik wieder breit abgestützte und echte Kompromisse. Das gilt auch für die Altersvorsorge. Sie zu reformieren, ist kein Ding der Unmöglichkeit, sondern einzig und allein abhängig vom ernsthaften Willen, Sachpolitik zu betreiben und die eigene Profilierung zurückzubinden. Für einen breiten Konsens muss schliesslich auch die Sozialpartnerschaft wieder stärker in den politischen Prozess eingebunden werden.

Der Gastbeitrag von Valentin Vogt ist in «zentralinfo» erschienen.