Fatale Reformverweigerung

5. Oktober 2011 Meinungen

Bei der AHV gilt es die Lehren aus der IV-Revision zu ziehen – und rechtzeitig zu handeln.

Vor den Wahlen ist nach den Wahlen. Für kaum ein Politikfeld gilt dieser Spruch so sehr wie für die Sozialpolitik. Immer mehr ziehen sich die Reformprojekte bei den Sozialversicherungen über mehrere Wahlperioden hin, und auch nach der zu Ende gehenden Legislatur wird die Agenda der pendenten Probleme länger sein als die Liste der gelungenen Revisionen. Dazu hat, neben der objektiven Schwierigkeit der Materie, ein verbreiteter Hang zur Verdrängung der kommenden Herausforderungen beigetragen.

IV als warnendes Beispiel
Eigentlich sollte die Invalidenversicherung (IV) ein warnendes Beispiel sein, wohin die Politik der Reformverweigerung führt. Seit Beginn der 90er-Jahre beobachtete man eine Zunahme der IV-Betriebsdefizite. Aber statt rechtzeitig die Ursache – die Explosion der Renten – anzugehen, versuchte man die Probleme mit Kapitalinfusionen auszusitzen. Erst mit der 4. Revision kam ein Prozess in Gang, der die IV sukzessive wieder auf Kurs bringen soll. Aber erst 2018 und nach einer massiven Zusatzfinanzierung darf mit dem Ausgleich der IV-Rechnung gerechnet werden; bis zum Abbau der Schulden wird es weitere zehn Jahre dauern. Dazu braucht es allerdings noch die Leistungskorrekturen der IV-Revision 6b, gegen die schon Referendumsdrohungen zu hören sind.

Der Beinahe-Crash der IV hat jedoch die Reformbereitschaft bei der AHV kaum verbessert. Mit der Ablehnung der 11. Revision wurde (nach zehnjähriger Parlamentsarbeit!) ein erster Entlastungsschritt verpasst, und in der Diskussion über die Ausrichtung der 1. Säule auf die demografischen Herausforderungen melden sich wieder Stimmen, die den Handlungsbedarf in Frage stellen. Die «Problem-Verdränger» machen geltend, dass die AHV noch auf sicheren Füssen stehe und die neuesten Perspektivenrechnungen besser aussehen würden als vor einigen Jahren. Richtigerweise sollte man von «weniger schlecht» sprechen, denn beim Umlage-Ergebnis zeigt die 1. Säule eine deutliche Tendenz ins Negative. Diese Entwicklung wird sich beschleunigen, sodass der Ausgleichsfonds zu Beginn der 2020er-Jahre in die «Abschmelzphase» geraten und innert weniger Jahre unter die kritische Liquiditätsgrenze sinken wird.

Chance für bessere Lösungen
Zugegeben: Die Perspektivenrechnungen sind mit Unsicherheiten verbunden. Schwierig zu prognostizieren ist vorab die wirtschaftliche Entwicklung, von welcher die Lohnbeiträge und die Mehrwertsteuer-Erträge zugunsten der AHV abhängen. Aber der negative Trend ist eindeutig, weil sich das Aktiven/Rentner-Verhältnis drastisch verschlechtern wird. Die resultierende Finanzierungslücke lässt sich selbst bei sehr optimistischen Annahmen mit dem Wachstum von Wirtschaft, Lohnbeiträgen und Mehrwertsteuer-Erträgen nicht schliessen.

Der Reformbedarf bei der AHV ist klar, und wir dürfen uns nicht durch Detailkritik an den Perspektivenrechnungen ablenken lassen. Ob die kritische Phase drei Jahre früher oder später kommt, ist nebensächlich. Aber je zügiger die Reform angegangen wird, desto mehr Spielraum bleibt für eine optimale Gestaltung des Übergangs zum neuen Regime. Diese Chance wird vertan, wenn das Verdrängungssyndrom erneut bestimmend bleibt. Es wäre ein Armutszeugnis für die Sozialpolitik, wenn sie nur noch nach dem Prinzip funktioniert: «Es muss zuerst schlimmer werden, damit es wieder besser kommt.»