Offensichtlich benötigen gewisse Gewerkschaftsvertreter Nachhilfeunterricht, wenn es um die Interpretation von offiziellen Statistiken geht. Um für eine mögliche Volksinitiative zur Durchsetzung der Lohngleichheit zu werben, suggerieren sie, Frauen seien Opfer von Diskriminierung, weil sie im Durchschnitt knapp 20 Prozent weniger verdienen als Männer. In einem Kommentar im St. Galler Tagblatt könnte für den schnellen Leser sogar der Eindruck entstehen, die Lohndiskriminierung der Frauen betrage 40 Prozent.
Höchste Zeit, der Verbreitung solcher falscher Fakten Einhalt zu gebieten: Was bedeuten die 19,1 Prozent durchschnittlicher Lohnunterschied zwischen Frauen und Männern, den das Bundesamt für Statistik (BFS) für die Privatwirtschaft ausweist, tatsächlich? Dieser Lohnunterschied resultiert, wenn die Löhne sämtlicher Frauen auf der einen Seite und die Löhne sämtlicher Männer in diesem Land auf der anderen Seite je in einen Topf geworfen werden und jeweils der Durchschnitt davon ermittelt wird. In diesen Töpfen finden sich also Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ganz unterschiedlichen Alters, mit ganz unterschiedlichen Ausbildungen aus sämtlichen Branchen und Berufen. Mit anderen Worten: Es werden Floristinnen mit Physikern, Berufseinsteiger mit überaus erfahrenen Fachpersonen, Akademikerinnen mit Hilfsarbeitern verglichen. Dass sie nicht alle den gleichen Lohn erhalten, liegt auf der Hand und hat nichts mit Diskriminierung zu tun.
Bei der ebenfalls vom BFS ausgewiesenen – und ebenfalls von den Gewerkschaften für ihre Zwecke verwendeten – Zahl von 39,1 Prozent handelt es sich um jenen Anteil an den knapp 20 Prozent Gesamtlohnunterschied, der mit den vom Bundesamt untersuchten Faktoren wie Alter oder Ausbildung nicht erklärbar ist. Es ist jedoch davon auszugehen, dass es weitere Unterschiede zwischen Frauen und Männern gibt, die gerechtfertigterweise zu unterschiedlichen Löhnen führen. Eine Studie im Auftrag der Kommission und der Fachstelle für Gleichstellung des Kantons Zürich zeigt dies anhand von Erwerbsunterbrüchen. Frauen verdienen demnach auch deshalb weniger als Männer, weil sie vergleichsweise häufiger für eine gewisse Zeit das Arbeitspensum reduzieren oder sogar ihre Erwerbstätigkeit unterbrechen.
Wer die Zahlen richtig interpretiert, kommt unweigerlich zum Schluss: Lohnunterschiede dürfen nicht mit Lohndiskriminierung gleichgesetzt werden. Die Gewerkschaften werden indes nicht müde, genau dies immer wieder zu tun, um ihre Forderung nach Lohnkontrollen in den Unternehmen zu rechtfertigen. Sie verschliessen sich damit aber wirklich zielführenden Massnahmen, um die geschlechtsspezifischen Lohnunterschiede weiter zu verringern: Massnahmen etwa zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie, damit Frauen genauso wie Männer ihre Erwerbsbiografie ohne Unterbrüche gestalten können, wenn sie dies denn wünschen.