Die ausgewogene, weitsichtige Politik bröckelt

28. September 2015 Medienbeiträge

Das Erfolgsgeheimnis der Schweiz ist ihr dynamischer Arbeitsmarkt. Diesen Trumpf dürfen wir nicht mit hemmenden Regulierungen verspielen.

Die Arbeitslosigkeit ist die grösste Sorge der Schweizerinnen und Schweizer. Für viel Erstaunen hat dieser Spitzenplatz im letztjährigen Sorgenbarometer der Credit Suisse aber nicht gesorgt. Seit 2003 liegt die Arbeitslosigkeit jeweils zuvorderst, womit sie Themen wie Migration, Sozialsysteme oder das bilaterale Verhältnis mit der EU von den Spitzenpositionen verdrängt. 2014 zählten 51 Prozent der Befragten die Arbeitslosigkeit zu den dringendsten fünf Problemen der Schweiz – deutlich mehr als im vergangenen Jahr.

Dass die Arbeitslosigkeit noch stärker als Sorge wahrgenommen wurde als in den vergangenen Jahren, ist aus meiner Sicht weniger Ausdruck der gegenwärtigen Situation des Arbeitsmarktes. Vielmehr ist es der Blick in die Zukunft, der die Schweizerinnen und Schweizer besorgt. Die weltweite Wirtschaftslage ist nach wie vor mit vielen Fragezeichen behaftet. Mit Ausnahme der USA und Deutschlands sind die Signale der wirtschaftlichen Entwicklung eher negativ. Weiterhin unklar bleibt zudem, wie sich die Verhandlungen der Schweiz mit der EU über die Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative entwickeln werden. Es ist anzunehmen, dass der Schweizer Arbeitsmarkt – das Herzstück unserer Volkswirtschaft – davon negativ tangiert wird.

Erfolgsgeheimnis Dynamik

Die herausragende Bedeutung der Arbeitslosigkeit in der Sorgenliste der letzten Jahre verdeutlicht auch, wie wichtig und dominierend Arbeit für das eigene Leben ist. Selbstverständlich spielt dabei der Lohnerwerb eine wesentliche Rolle. Aber eben nicht nur: Gerade in der Schweiz sind Beruf und Arbeit Teil der eigenen Identität und mithin sinnstiftend. Wer seine Arbeit verliert, verliert darum einen Teil seiner Identität. Die Arbeitslosigkeit kann zugleich zu gesellschaftlicher Isolation führen. Meist sind damit gesundheitliche Risiken verbunden. Die Arbeitslosigkeit bedeutet also weitaus mehr als Lohnverlust. Sie kann den Sinn des eigenen Lebens fundamental in Frage stellen.

Mit einer Arbeitslosenquote von 3,2 Prozent und einer Jugendarbeitslosenquote von 3,6 Prozent (Stand August 2015) trotzt die Schweiz den wirtschaftlichen Widrigkeiten besser als viele andere Länder. Dieser Erfolg gründet auf der Flexibilität des Schweizer Arbeitsmarktes. Die Ausgewogenheit der Schweizerischen Politik früherer Jahre sorgte dafür, dass nur wesentliche und wichtige Regulierungen die Dynamik und den Kreislauf des Arbeitsmarktes beschnitten. Diese Dynamik ist das Erfolgsgeheimnis der Schweiz: Pro Jahr treten rund 550‘000 Personen – das entspricht 2‘500 Personen pro Arbeitstag – in ein neues Arbeitsverhältnis ein, davon rund 300‘000 durch einen Stellenwechsel in der bestehenden Firma oder bei einem neuen Arbeitgeber.

Diese eindrücklichen Zahlen beweisen, dass ein Austritt aus der Arbeitswelt – gewollt oder ungewollt – in der Schweiz nicht zwangsläufig in eine Sackgasse führt. Gute Arbeitsmarktpolitik beschränkt sich also nicht einfach darauf, den Status Quo zu erhalten. Gute Arbeitsmarktpolitik fördert vielmehr die Anpassung der Wirtschaft an die strukturellen Veränderungen. Die hohe Dynamik des Schweizer Arbeitsmarkts ist entsprechend Ausdruck der raschen Anpassungsfähigkeit des Arbeitsmarkts.

Wenn nun die Arbeitslosigkeit im Sorgenbarometer 2014 trotzdem als viel grösseres Problem wahrgenommen wird als in den vergangenen Jahren, kann das auch als Befürchtung aufgefasst werden, dass eben diese Dynamik des Arbeitsmarktes verlorengehen könnte. Dies ist im Kern natürlich eine Kritik an der jetzigen Politik.

Gefährliche Regulierungen

Solche Einwände sind tatsächlich angebracht: Kontingente, Inländervorrang, Quoten oder Lohnpolizei sind nur einige Begriffe, die in jüngster Zeit wieder den Weg in den politischen Diskurs gefunden haben. Hinter diesen Begriffen stehen politische Vorstösse, mit denen dem Arbeitsmarkt unnütze Fesseln angelegt werden sollen. Wer die politischen Debatten der letzten Jahre verfolgt hat, konnte erkennen, in welchem Ausmass von verschiedenster Seite immer wieder versucht wurde, den Arbeitsmarkt mit tiefgreifenden und gefährlichen Regulierungen zu belasten. Es muss uns alle sehr nachdenklich stimmen, dass wir mit solchen Regulierungen unseren dynamischen Arbeitsmarkt – und damit einen der grössten Trümpfe der Schweiz – zu verspielen drohen.

Die gestiegene Besorgnis über die Arbeitslosigkeit ist aus dieser Warte auch ein Ausdruck eines übergeordneten Zweifels, dass die Schweizer Politik derzeit einen Teil ihrer Besonnenheit, Ausgewogenheit und Weitsichtigkeit, durch die sie sich in der Vergangenheit ausgezeichnet hat, verloren hat. Diese Sorge, man muss es in aller Deutlichkeit sagen, ist mehr als berechtigt.

Der Artikel von Valentin Vogt ist im E-Magazin «Kompass für die Schweiz – Ein Blick in die politische Zukunft mit dem Sorgenbarometer der Credit Suisse» erschienen.