«Keine Rente unter 30». So lautet der Grundsatz, mit dem sich die vorberatende Kommission des Nationalrats im Rahmen der IV-Revision befasst. Die Idee dahinter: Unter 30-Jährige mit psychischer Beeinträchtigung sollen gezielt in den Arbeitsmarkt integriert werden statt eine IV-Rente erhalten. Die Kommission hat die Verwaltung angewiesen, diese Idee zu konkretisieren. Eine mögliche Variante hat der Schweizerische Arbeitgeberverband in seiner Vernehmlassungsantwort skizziert. Demnach könnte Betroffenen ein befristetes Taggeld gesprochen werden, das an etappierte Massnahmen zur beruflichen Eingliederung geknüpft ist. Über positive Anreize sollen sie möglichst ganz oder zumindest teilweise in den Arbeitsmarkt integriert werden. Selbstverständlich würden dabei junge Erwachsene – etwa mit schweren Geburtsgebrechen –, die keine Aussicht auf eine Beschäftigung im allgemeinen Arbeitsmarkt haben, von diesem Grundsatz ausgenommen und stattdessen wie bisher eine IV-Rente erhalten. Für alle anderen sollen IV-Renten erst dann gesprochen werden, wenn sich ihre berufliche Eingliederung dauerhaft als unmöglich erweist.
In den Medien wurden bereits Stimmen laut, die hinter diesem Ansatz einen Leistungsabbau für junge IV-Rentner befürchten, da diese einfach in die Sozialhilfe abgeschoben würden. Im Widerspruch dazu sorgen sich linke Politikerinnen wegen «teurer Eingliederungsmassnahmen» plötzlich um die Kosten für die IV. Um was geht es also wirklich bei diesem Ansatz: bloss um getarnte Sparmassnahmen oder um Investitionen in die berufliche Eingliederung von Jungen mit Beeinträchtigung?
Niklas Baer, Verfasser des BSV-Forschungsberichts «Profile von jungen IV-Neurentenbeziehenden mit psychischen Krankheiten» kommt zum Schluss, dass die Einführung eines Mindestalters für IV-Renten sinnvoll ist. Dadurch würden alle Beteiligten mehr in die Eingliederung und den Erhalt der Arbeitsmarktfähigkeit investieren und dabei den längeren Atem entwickeln. Laut Baer erhalten nämlich gerade junge Erwachsene mit psychischen Erkrankungen, die wohlgemerkt zwei Drittel der Neuverrentungen ausmachen, oft viel zu schnell eine IV-Rente. Ihnen müsste mehr Zeit gegeben werden, damit die Eingliederungsversuche in den Arbeitsmarkt greifen können. Die Alternative – eine IV-Rente – wird für unter 30-Jährige leider häufig zum Dauerzustand. Laut Baer kommen Betroffene in der Regel nicht mehr davon weg, da sie sich daran gewöhnen. In einem kürzlich erschienenen Interview erzählt Baer vom Schicksal einer jungen Frau, die ihm preisgab: «Der grösste Fehler, den man bei mir machte, ist, dass man mir eine IV-Rente gab.»
Junge sollen arbeiten können und in absehbarer Zeit keine Rente mehr brauchen.
Eine IV-Rente schafft Abhängigkeiten, führt zu gesellschaftlicher Stigmatisierung und nagt am Selbstvertrauen. Nicht arbeiten zu können, kapselt Betroffene häufig von wichtigen sozialen Kontakten ab. Gerade deshalb ist der Grundsatz «keine Rente unter 30» für sie zentral. Der Ansatz sendet eine positive Botschaft an die Jungen: Sie sollen arbeiten können und in absehbarer Zeit keine Rente mehr brauchen. Die Investition in die Arbeitsmarktfähigkeit verbessert aber nicht nur die persönliche Situation junger Leute, sondern rechnet sich langfristig auch für IV und EL.
Die Arbeitgeber haben ein wachsendes Interesse an einer verstärkten beruflichen Eingliederung von Jungen mit Beeinträchtigung, um das Inländerpotenzial in der Schweiz besser auszuschöpfen und dem Fachkräftemangel zu begegnen, der sich durch die bevorstehende Pensionierungswelle der Babyboomer weiter akzentuiert. Die Arbeitgeber engagieren sich auch deshalb verstärkt und mit Erfolg für die berufliche Eingliederung: Seit 2012 konnten jährlich rund 20’000 bei der IV gemeldete Personen ihre Arbeitsstelle behalten oder eine neue Stelle finden. Die Anzahl Personen, deren Arbeitsmarktfähigkeit durch gezielte Massnahmen wie Case-Management von Privatversicherern oder Arbeitgebern erhalten werden konnte, noch bevor die IV überhaupt involviert wurde, dürfte gar noch deutlich höher liegen. Auch aus betriebswirtschaftlicher Sicht haben Unternehmen ein grosses Interesse daran, Mitarbeitende mit Beeinträchtigung zu halten. Schliesslich führen lange Ausfälle zu hohen Kosten und zu Know-how-Verlust.
Die Befürchtungen im Hinblick auf den Ansatz «keine Rente unter 30» sind daher sachlich unbegründet. Statt ideologische Grabenkämpfe zu führen, sollten Parlamentarierinnen und Parlamentarier ernsthaft an professionellen Settings für junge Erwachsene mit Beeinträchtigung arbeiten, um ihnen den Eintritt in die Arbeitswelt zu ermöglichen. Schliesslich kommt es angesichts der jährlich 3000 neuen IV-Rentner unter 30 einer Bankrotterklärung gleich, wenn nicht verstärkt in ihre Eingliederung in die Arbeitsgemeinschaft investiert wird, sondern von Beginn weg in ihre Verrentung.