«Die IAO konnte sich immer wieder den Veränderungen in der Arbeitswelt anpassen»

7. Juni 2019 5 Fragen an...

Die internationale Arbeitsorganisation (IAO) feiert dieses Jahr ihr 100-jähriges Bestehen. Deswegen haben wir dem IAO-Generaldirektor Guy Ryder fünf Fragen gestellt.

Die Internationale Arbeitsorganisation (IAO) wurde im Jahr 1919 im Zuge des Versailler Vertrags gegründet und feiert dieses Jahr ihr 100-jähriges Bestehen. Wie erklären Sie diese Langlebigkeit?

Der lange Fortbestand der IAO ist hauptsächlich ihrem Mandat des Einsatzes zugunsten der sozialen Gerechtigkeit und des Friedens in der Arbeitswelt geschuldet. Das ist heute genauso aktuell wie vor 100 Jahren. Auch das einzigartige, vielfach bewährte tripartite System hat dazu beigetragen. Diese tripartite Struktur, also die Vereinigung von Regierungen, Arbeitnehmern und Arbeitgebern, ermöglicht es uns, die Agenda für menschenwürdige Arbeit voranzutreiben, also Arbeitsnormen festzulegen, anständige Arbeitsbedingungen zu fördern und zur Stärkung der sozialen Absicherung und des sozialen Dialogs beizutragen. Die bis heute von der IAO verabschiedeten 189 Übereinkommen und 205 Empfehlungen stellen den nationalen Gesetzgebungen einen rechtlichen Rahmen zur Verfügung. Sie haben einen unmittelbaren Einfluss auf das Leben von Millionen von Arbeitnehmern auf der ganzen Welt. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist auch, dass sich die IAO im Laufe ihres 100-jährigen Bestehens immer wieder den Veränderungen in der Arbeitswelt anzupassen vermochte, ohne dabei die Grundsätze und Werte aus den Augen zu verlieren.

Was sind die grössten Herausforderungen, mit welchen die IAO heute konfrontiert ist?

In unserer 100-jährigen Geschichte haben wir bereits grosse Fortschritte erzielt. Dennoch gibt es vieles, das noch vor uns liegt: Wir schätzen die Zahl der Arbeitslosen weltweit auf 172 Millionen. Zudem ist die Mehrheit der 3,3 Milliarden Arbeitnehmern mit einem Mangel an materiellen Gütern und wirtschaftlicher Sicherheit sowie mit einer Ungleichheit der Chancen und Möglichkeiten zur menschlichen Entwicklung konfrontiert. Hinzu kommen Umwälzungen in der Arbeitswelt in noch nie dagewesenem Ausmass im Zusammenhang mit der Digitalisierung der Wirtschaft, aber auch mit dem demografischen Wandel, dem Klimawandel und der Globalisierung. Angesichts dieser Herausforderungen muss die IAO den Blick in die Zukunft richten und den laufenden Veränderungen in der Arbeitswelt Rechnung tragen.

Seit einigen Jahren ist eine Zunahme der atypischen Beschäftigungsverhältnisse festzustellen. Ist die herkömmliche Beschäftigung, also unbefristete Arbeitsverträge mit festen Arbeitszeiten bei einem einzigen Arbeitgeber, ein Auslaufmodell?

Es ist klar, dass die Innovation vor allem in den Industrieländern zur Herausbildung von flexibleren Arbeitsmodellen geführt hat. Dies mit der Möglichkeit, dezentral und auf Abruf zu arbeiten. Einige Arbeitnehmer haben sich bewusst für atypische Beschäftigungsformen entschieden. Für die überwiegende Mehrheit sind sie jedoch gleichbedeutend mit Unsicherheit. Für Unternehmen können diese Beschäftigungsformen Kostenvorteile und kurzfristige Flexibilität bieten. Sie beinhalten aber auch erhebliche Risiken, wie längerfristige Produktivitätseinbussen. Atypische Beschäftigungsformen werden im Zuge der Veränderungen in der Arbeitswelt zunehmen. Deshalb braucht es unbedingt rechtliche Rahmenbedingungen, kollektive Verträge und soziale Sicherungssysteme, um sicherzustellen, dass auch atypische Beschäftigung unter menschenwürdigen Bedingungen stattfindet. Das liegt letztlich im Interesse sowohl der Arbeitnehmer wie auch der Arbeitgeber. Wir stellen uns dieser Herausforderung.

Anlässlich der Internationalen Arbeitskonferenz werden sich die Delegierten mit dem Bericht «Für eine bessere Zukunft arbeiten»  auseinandersetzen. Was sind die Chancen und Risiken, die mit der Digitalisierung einhergehen?

Ich denke, wir müssen uns grundsätzlich zwei Realitäten stellen: Neue Technologien werden in bestimmten Fällen menschliche Arbeit ersetzen, sie haben aber auch das Potenzial, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Technologie kann überdies eine Schlüsselrolle bei der Förderung menschenwürdiger Arbeit einnehmen, indem sie den Arbeitnehmern schwierige, belastende, schmutzige oder gefährliche Arbeiten abnimmt. Unsere Aufgabe ist es demnach, die technologischen Veränderungen so zu steuern, dass sie zum bestmöglichen Resultat für den Arbeitsmarkt sowie für die sozialen und ökologischen Aspekte führt. Eine der wichtigsten Herausforderungen besteht darin, sicherzustellen, dass die Arbeitnehmer über die notwendigen Kompetenzen im Umgang mit den neuen Technologien verfügen. Die Arbeitnehmer sollten sich neue Kompetenzen aneignen oder eine Umschulung vornehmen und dabei speziell auf die «weichen» Kompetenzen im sozialen und zwischenmenschlichen Bereich Wert legen.

Im Oktober 2018 haben Bundesrat Schneider-Amman und die Vertreter der Sozialpartner in Bern in Ihrer Anwesenheit die «Tripartite Erklärung zur Zukunft der Arbeit und der Sozialpartnerschaft in der Schweiz im Zeitalter der Digitalisierung der Wirtschaft» unterzeichnet. Wie beurteilen Sie diesen Text, in dem die Sozialpartnerschaft eine prominente Rolle einnimmt?

Ich messe dieser tripartiten Erklärung, die ja bekanntlich im Rahmen der Feierlichkeiten zum 100-jährigen Bestehen der IAO entstand, einen hohen Stellenwert sowohl bezüglich des Inhalts wie auch der Bedeutung zu. Sie zeigt die Verbundenheit der Schweiz mit dem Mandat der IAO, nämlich der Förderung der sozialen Gerechtigkeit und der menschenwürdigen Arbeit. Die Erklärung zeugt von der Verpflichtung zu einem vertieften sozialen Dialog und dient der Stärkung der Sozialpartnerschaft. Das sind wichtige Schlüsselelemente, um die Herausforderungen der Arbeitswelt bewältigen zu können. Ich bin davon überzeugt, dass der soziale Dialog jetzt, da neue Kräfte die Arbeitswelt umgestalten, bedeutender denn je ist. Denn er ermöglicht es den Sozialpartnern , wichtige Entscheidungen gemeinsam zu treffen; beispielsweise auf welche Technologien wir setzen, wie wir den Umstieg der Arbeitnehmer in neue Arbeitsfelder handhaben, welche durch die neuen Technologien freigesetzt werden, oder wie wir das an eine Arbeitswelt im Umbruch angepasste lebenslange Lernen fördern sollen. Die schweizerische Kultur des Dialogs bildet einen Bezugspunkt, um dem sozialen Dialog neue Bedeutung und Wirksamkeit zu verleihen und ihn als Instrument im Dienst einer modernen Arbeitswelt zu etablieren.