Ein Blick-Artikel sorgte heute für Aufsehen. Der Blick zitierte unseren Direktor, Roland A. Müller, mit den Worten «Existenzsichernder Lohn ist nicht Aufgabe der Arbeitgeber». Die Aussage kann – so arg verkürzt – falsch verstanden werden und geriet vielen in den falschen Hals. Deshalb hier – zum besseren Verständnis – eine Einordnung und Fakten.
Nur wenige, die arbeiten, sind von Armut betroffen
Beginnen wir mit den Fakten. Gemäss BFS lag die Armutsquote 2023 in der Schweiz bei 8,2 Prozent. Ein besonders hohes Risiko, unter die Armutsgrenze zu fallen, haben dabei Personen ohne Erwerbstätigkeit (15,4 Prozent). Bei Erwerbstätigen liegt die Quote bei 4,4 Prozent. Noch etwas präziser ist der Indikator der materiellen und sozialen Deprivation der Erwerbstätigen: In der Schweiz beträgt er 3,4 Prozent. Im europäischen Vergleich ist das ein Spitzenwert – einzig die Niederlande liegen noch tiefer. Der EU-Durchschnitt liegt bei 9,1 Prozent, Deutschland bei 9,3 Prozent.
Noch tiefer fällt das Armutsrisiko aus, wenn Menschen in Haushalten mit hoher Erwerbsintensität leben. Viele der als arm geltenden Erwerbstätigen arbeiten in niedrigen Pensen. In Haushalten mit sehr hoher Erwerbsintensität (über 85 Prozent) liegt die Armutsquote bei lediglich 2,3 Prozent – das entspricht total 61’000 Personen, die in einem solchen Haushalt leben. Diese Zahl lässt sich näherungsweise als Mass für die Anzahl der «Working Poor» interpretieren – Kinder in diesen Haushalten eingeschlossen. Sie bleibt überschaubar und zeigt: Wer arbeitet oder in einem erwerbstätigen Haushalt lebt, ist in der Regel gut vor Armut geschützt.
Daraus ergibt sich eine zentrale Erkenntnis: Nicht tiefe Löhne sind das Hauptproblem, sondern tiefe Pensen oder Erwerbslosigkeit. Wer Armut bekämpfen will, muss den Zugang zum Arbeitsmarkt stärken – nicht neue Hürden aufbauen.
Gut zu wissen ist auch, dass Armut in der Schweiz häufig keine dauerhafte, sondern eine vorübergehende Lebenslage ist. Rund die Hälfte der Betroffenen lebt weniger als ein Jahr unter der Armutsgrenze. Viele befinden sich in Übergangsphasen – etwa beim Berufseinstieg, nach einer Trennung oder mit jungen Kindern. In solchen Situationen kann auch ein tiefer Lohn eine Brücke in den Arbeitsmarkt sein.
Besser differenziert regeln, statt pauschal verordnen
Ist der Arbeitgeberverband gegen «existenzsichernde Löhne», wie auch immer man «existenzsichernd» definiert? Mitnichten. Jeder Arbeitgeber hat das Ziel und auch einen Anreiz, existenzsichernde Löhne zu zahlen. Wie oben beschrieben, genügt der Lohn in den allermeisten Fällen auch zum Leben. Trotzdem kann es Ausnahmen geben: Nicht jedes Unternehmen hat die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, in jedem Fall einen sogenannten existenzsichernden Lohn zu zahlen – zumal dieser Begriff je nach Wohnort und Familiensituation stark variieren kann. Gerade in Zeiten des Arbeitskräftemangels hat aber jedes Unternehmen einen Anreiz einen angemessenen Lohn zu bezahlen, um attraktiv für die Arbeitnehmenden zu sein. Dennoch: Ein Lohn muss sich betriebswirtschaftlich tragen. Arbeitnehmende müssen mindestens das leisten, was sie kosten. Das ist keine Herzlosigkeit, sondern Voraussetzung für die Sicherung von Arbeitsplätzen.
Besonders in Branchen mit tiefen Löhnen wie Gastgewerbe, Hauswirtschaft oder persönlichen Dienstleistungen ist die Produktivität eher tief und kaum gestiegen. Zwar profitieren auch diese Löhne etwas von den Produktivitätsgewinnen in anderen Branchen. Dennoch ist klar: Obwohl diese Arbeit wichtig ist, lässt sie sich nicht beliebig verteuern, ohne Stellen zu gefährden. Wer hier gesetzlich nach oben reguliert, ohne auf lokale Gegebenheiten und Branchenspezifika Rücksicht zu nehmen, riskiert Jobverluste oder Verlagerung in die Schattenwirtschaft – mit allen bekannten sozialen Kosten.
Arbeit schützt nicht nur finanziell. Wer arbeitslos wird, verliert Teilhabe, Struktur und langfristig oft auch die Gesundheit. Ist es da nicht besser, vorübergehend etwas weniger zu verdienen, als aus dem Arbeitsmarkt zu fallen?
GAV und soziales Netz: Die klügere Kombination
In der Schweiz gibt es längst funktionierende Instrumente: Gesamtarbeitsverträge (GAV) legen branchenspezifische Mindestlöhne fest – abgestimmt auf Produktivität, Margen und Qualifikationen. Sie entstehen im Konsens zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Sie sind flexibel, bewährt und realitätsnah. Sie berücksichtigen, dass ein Arbeitsverhältnis mehr umfasst als den Lohn: Auch Arbeitszeit, Ferien oder Weiterbildung gehören dazu.
Dieses sozialpartnerschaftliche Modell ist der Schweizer Weg – und er funktioniert. Wie der SGB festgestellt hat, sind die Löhne in den unteren Einkommensbereichen in der Schweiz in den letzten Jahren (2010 bis 2022) tendenziell stärker gestiegen als die mittleren Löhne, insbesondere in Branchen mit GAV.
Wo das Erwerbseinkommen nicht reicht, springt der Sozialstaat gezielt ein – mit Ergänzungsleistungen, Prämienverbilligungen, Wohngutschriften oder steuerlichen Entlastungen. Dieses Modell ist nicht nur treffsicherer als flächendeckende Mindestlöhne, sondern auch solidarischer, als es oft dargestellt wird. Denn es wird auch über Unternehmenssteuern finanziert. So tragen Unternehmen auf breiter Basis zur sozialen Absicherung bei. Im Gegensatz zu Mindestlöhnen führt dies nicht dazu, dass die Arbeitslosigkeit steigt, Preise erhöht oder der Faktor Arbeit zusätzlich belastet werden.
Fazit: Arbeit ermöglichen statt verhindern
Wer es ernst meint mit der Armutsbekämpfung, muss beim Zugang zum Arbeitsmarkt ansetzen – nicht bei dessen Einschränkung. Statt pauschalen Lohnvorgaben braucht es flexible Lösungen, die Rücksicht auf wirtschaftliche Realitäten, lokale und branchenspezifische Gegebenheiten und individuelle Lebenslagen nehmen.
Gerade deshalb erstaunt es, wenn ausgerechnet jene Kreise, die sich lautstark für flächendeckende Mindestlöhne einsetzen, gleichzeitig immer neue Abgaben auf Löhne fordern – etwa für zusätzliche Sozialleistungen oder neue Umverteilungsmechanismen. Damit schwächen sie jene, die sie zu schützen vorgeben: die Arbeitnehmenden. Denn jede zusätzliche Belastung macht Arbeit teurer, reduziert die Spielräume der Unternehmen und erschwert insbesondere den Marktzugang für Geringqualifizierte. Wer Erwerbstätigkeit stärken will, sollte nicht ständig neue Hürden errichten.