«Personen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen bergen als Arbeitskräfte ein Potenzial, das noch zu wenig ausgeschöpft wird»

20. Dezember 2016 Medienbeiträge

Integration und Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt: eine Win-win-Situation für Unternehmen, Mitarbeitende und Gesellschaft. Davon ist Martin Kaiser, Leiter Sozialpolitik des Arbeitgeberverbandes und Präsident von Compasso, überzeugt.

Welche Bedeutung kommt der Arbeit in unserer Gesellschaft zu?
Arbeiten bedeutet, am sozialen Leben teilzunehmen, in ein Netzwerk integriert zu sein, mit anderen in Dialog zu treten, Rückmeldungen zu erhalten. Arbeit bedeutet auch Anerkennung. Das sind wichtige Konzepte. Und natürlich darf auch der rein materielle Aspekt nicht vergessen werden: Arbeit ist der beste Schutz vor Armut.

Warum soll die Integration von Menschen mit eingeschränkter Arbeitsfähigkeit gefördert werden?
Aus wirtschaftlicher Sicht war es noch nie so interessant wie heute, Personen mit eingeschränkter Arbeitsfähigkeit in den Arbeitsmarkt zu integrieren, wenn man die demografische Entwicklung berücksichtigt: Experten schätzen, dass in den nächsten zehn Jahren gegen 500‘000 qualifizierte Arbeitskräfte mehr in Pension gehen, als junge Menschen nachrücken. Mit der Einwanderung alleine werden wir diese Nachfrage an spezialisierten Arbeitskräften nicht decken können. Personen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen bergen als Arbeitskräfte ein Potenzial, das noch zu wenig ausgeschöpft wird – und wir wissen, dass es sich bei vielen von ihnen um äusserst motivierte Mitarbeitende handelt.

Welches sind die Voraussetzungen für die (Wieder-)Eingliederung?
Zum einen müssen die Unternehmen für die Integration und die Wiedereingliederung sensibilisiert werden, um die nötigen Rahmenbedingungen zu schaffen. Eine möglichst frühe Erfassung ist zentral, damit kann oft das Schlimmste verhindert werden. Die Mitarbeitenden müssen ihrerseits Motivation an den Tag legen und – trotz der schwierigen Situation – die Bereitschaft zeigen, wieder arbeiten zu wollen. Dann braucht es die Vorgesetzten und Teams, die täglich mit diesen Personen zusammenarbeiten. Je nach gesundheitlicher Problematik sind sie stark gefordert; die Unterstützung durch einen Coach kann dabei sehr hilfreich sein.

Warum sollte ein Unternehmen Menschen mit eingeschränkter Arbeitsfähigkeit anstellen?
Weil dies viele konkrete Vorteile mit sich bringt. Und zwar nicht nur die Neuanstellung, sondern insbesondere auch die Erhaltung der Arbeitsmarktfähigkeit von Personen, die bereits im Unternehmen sind. Es geht darum, ausgezeichnete Mitarbeitende im Betrieb zu halten – vielleicht mit einem angepassten Stellenprofil – oder neue Mitarbeitende zu gewinnen. Das hilft, die Kosten der Langzeitabsenzen und die Personalfluktuationskosten zu senken. Ausserdem hilft die neu geschaffene Vielfalt in den Teams, die Bedürfnisse der Kundschaft besser zu verstehen – die ebenfalls sehr heterogen zusammengesetzt sind – und innovativer und flexibler zu werden. Eine homogene Kultur mag auf den ersten Blick einfacher sein, aber langfristig nützt eine vielfältige Unternehmenskultur dem Betrieb mehr.

Was bedeutet Ability Management?
Man konzentriert sich auf die Stärken einer Person, anstatt hauptsächlich ihre Schwächen beseitigen zu wollen. Der Schwerpunkt wird also auf die Kompetenzen einer Person gelegt. Ich mache Ihnen ein Beispiel: An den Rollstuhl gebunden zu sein, steht einem qualifizierten Bürojob nicht im Weg; es müssen vielleicht einfach ein paar Anpassungen beim Arbeitsplatz gemacht werden.

Gibt es Zahlen zur Integration in den Schweizer Arbeitsmarkt?
Laut der IV-Stellen-Konferenz haben es die IV und die Arbeitgeber zwischen 2012 und 2015 geschafft, die Arbeitsstelle von 75’000 Personen zu erhalten oder ihnen eine neue anzubieten. Das sind ermutigende Zahlen, die nicht zuletzt der Entwicklung der IV zu verdanken sind: Sie wurde von einer Renten- zu einer Eingliederungsversicherung umgebaut.

Es geht um rund 20’000 Renten jährlich. Kann man da nicht mehr machen?
Natürlich ist immer noch mehr möglich. Man muss aber berücksichtigen, dass Integration und Wiedereingliederung keine Selbstläufer sind, sondern das Resultat eines Engagements des Arbeitnehmers und des Arbeitgebers. Wichtig sind deshalb auch praxistaugliche Instrumente und Prozesse für die Arbeitgeber, die wir von Compasso von der Praxis für die Praxis zur Verfügung stellen.

Wie beurteilen Sie als Präsident von Compasso – der Verein setzt sich mit der Thematik der (Wieder-)Eingliederung auseinander, die Post zählt auch zu dessen Mitgliedern – das Vorgehen der Post?
Die Post gehört zu den Pionierunternehmen, die sich sehr stark, konkret und mit Erfolg für die berufliche Eingliederung gesundheitlich Beeinträchtigter engagieren, und das schon seit vielen Jahren. Dank ihrer Grösse konnte die Post eine passende Struktur schaffen, die schnell und gezielt zum Einsatz kommt.

Mit welchen Kosten muss für die Gesellschaft gerechnet werden, falls Personen mit eingeschränkter Arbeitsfähigkeit arbeitslos bleiben?
Mit sehr hohen Kosten: Aus unternehmerischer Sicht sind es die Absenzkosten, wenn Mitarbeitende ausfallen, die der Arbeitgeber oder Versicherungen decken müssen. Es kommen Gesundheitskosten hinzu, die häufig zu statt abnehmen, wenn jemand keine Arbeit mehr hat. Vielleicht sogar eine IV-Rente und Ergänzungsleistungen, Arbeitslosengelder oder Sozialhilfe. Es lohnt sich deshalb, sich für die Eingliederung gesundheitlich Beeinträchtiger zu engagieren.

Das Interview mit Martin Kaiser ist in der Personalzeitung der Post erschienen.