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Inländisches Arbeitskräftepotenzial besser ausschöpfen
Die Personenfreizügigkeit mit der EU ist ein wichtiger Erfolgsfaktor der Schweiz. Gerade im Kontext der demografischen Entwicklung und des zunehmenden Arbeitskräftemangels ist es entscheidend, dass die Schweizer Unternehmen Zugang zu ausländischen Arbeitskräften haben. Doch die damit verbundene Zuwanderung beschäftigt und beunruhigt die Schweizer Bevölkerung.
Was ist zu tun? Eine wichtige Massnahme ist die optimale Ausschöpfung des inländischen Arbeitskräftepotenzials. Denn je besser dieses Potenzial genutzt wird, desto weniger ist die Schweiz auf ausländische Arbeitskräfte angewiesen. In diesem Papier zeigen wir die Fakten und Herausforderungen für den Arbeitsmarkt in der Schweiz auf. Wir legen mit konkreten Beispielen dar, was die Wirtschaft unternimmt, um das inländische Arbeitskräftepotenzial bestmöglich auszuschöpfen. Damit dies in Zukunft noch besser gelingt, braucht es neben dem Engagement der Unternehmen gute Rahmenbedingungen. Die Politik ist gefordert, diese zu verbessern.
Dieses Papier wurde in Zusammenarbeit mit economiesuisse verfasst. Verantwortlich sind Dr. Simon Wey, Chefökonom beim Schweizerischen Arbeitgeberverband (SAV) und Prof. Dr. Rudolf Minsch, Chefökonom, Stv. Vorsitzender der Geschäftsleitung und Bereichsleiter allgemeine Wirtschaftspolitik & Bildung bei economiesuisse.
Position SAV und economiesuisse
- Die Personenfreizügigkeit mit der EU und der bilaterale Weg sind insgesamt ein Erfolg. Er hat uns Wohlstand und eine hohe Lebensqualität gebracht. Die hohe Zuwanderung in den letzten Jahren ist jedoch eine Sorge der Bevölkerung, die ernst genommen werden muss. Es gilt Lösungen zu erarbeiten, um die Zuwanderung zu senken, ohne aber die Personenfreizügigkeit zu gefährden.
- Ein zentraler Hebel ist die noch bessere Nutzung des inländischen Arbeitskräftepotenzials. Die grosse Mehrheit der Unternehmen tut bereits viel, um den aktuellen Arbeitskräftemangel zu mildern und das inländische Arbeitskräftepotenzial bestmöglich auszuschöpfen.
- Ein weiterer wichtiger Hebel ist die Steigerung der Produktivität. Die Schweiz muss ihre Innovationsfähigkeit erhalten und die Unternehmen müssen wettbewerbsfähig bleiben. Dafür müssen die Rahmenbedingungen verbessert werden. Der Staat muss Freiräume schaffen und bürokratische Hürden abbauen, selbst produktiver werden und sein Wachstum stark drosseln.
- Damit das inländische Arbeitskräftepotenzial noch besser ausgeschöpft werden kann, braucht die Wirtschaft also die Unterstützung der Politik. Die Arbeitsanreize müssen verbessert werden. Es braucht bessere Rahmenbedingungen, damit sich mehr und länger arbeiten lohnt. Die Arbeitszeiten sind zu flexibilisieren. Das starre Arbeitsgesetz muss an die heutigen Präferenzen der Arbeitnehmer angepasst und die Bildung stärker auf die Bedürfnisse des Arbeitsmarkts ausgerichtet werden.
Ausgangslage
Die Personenfreizügigkeit mit der EU und der bilaterale Weg sind ein Erfolg für die Schweiz. Sie haben Wohlstand und eine hohe Lebensqualität gebracht. Die Zuwanderung ist jedoch eine Sorge der Bevölkerung, die ernst genommen werden muss. Die Nettozuwanderung in die Schweiz ist in den letzten Jahren gestiegen. Die Zuwanderung in den Arbeitsmarkt aus der EU ist dabei für einen Teil der gesamten Migration verantwortlich.
Es gibt im Wesentlichen zwei Lösungsansätze, um etwas gegen die hohe Nettozuwanderung aus der EU zu tun:
- Staatliche Begrenzung der EU-Zuwanderung
- Substitution von EU-Arbeitskräften durch inländisches Personal
Der erste Lösungsansatz entspricht der Stossrichtung der so genannten «Nachhaltigkeitsinitiative», welche die Bevölkerung in der Schweiz auf 10 Millionen Menschen begrenzen will und auch eine Kündigung der Personenfreizügigkeit als Massnahme verlangt. Aus Sicht der Wirtschaft ist dieser Ansatz der falsche. Einerseits, weil er zu statisch und zu bürokratisch ist. Die Initiative ignoriert die demografische Entwicklung und deren Einfluss auf den Schweizer Arbeitsmarkt und die Wirtschaft. Andererseits gefährdet die Initiative den bilateralen Weg, da eine Kündigung der Personenfreizügigkeit auch ein Ende der Bilateralen I bedeuten würde aufgrund der sog. Guillotine-Klausel).
Der zweite Lösungsansatz entspricht der Stossrichtung der Wirtschaft: Die Zuwanderung aus der EU ist arbeitsmarktbezogen. Infolgedessen muss sie mit Massnahmen angegangen werden, die auf den Arbeitsmarkt abzielen, genauer gesagt auf den Bedarf und auf das Angebot an Arbeitskräften im Inland. Massgebliche Faktoren wie die demografische und die wirtschaftliche Entwicklung dürfen dabei nicht einfach ungeachtet bleiben. Ein wichtiger Hebel, um den Bedarf an ausländischen Arbeitskräften zu reduzieren, liegt bei der Ausschöpfung des inländischen Arbeitskräftepotenzials.
Dieses Papier zeigt auf, wie sich der Schweizer Arbeitsmarkt in den letzten Jahren entwickelt hat (Kapitel 2). Ein Blick auf die Fakten verdeutlicht, dass der liberale Arbeitsmarkt der Schweiz sehr gut funktioniert. Die ebenfalls im Papier aufgeführten Beispiele untermauern dies. Die Unternehmen in der Schweiz haben bis heute eine grosse Zahl von attraktiven Arbeitsplätzen geschaffen und immer wieder flexibel auf gesellschaftliche Veränderungen und die Bedürfnisse der Arbeitnehmer reagiert. Eine grosse Herausforderung wird es aber sein, künftig noch genügend Personen zu finden, damit diese Arbeitsplätze auch besetzt werden können. Der heute schon stark spürbare Mangel an Arbeitskräften wird sich aufgrund der Demografie weiter verschärfen (Kapitel 3). Die Wirtschaft hat diese Herausforderung erkannt. Die Unternehmen sind nicht untätig, sondern haben bereits zahlreiche Massnahmen ergriffen (Kapitel 4). Jetzt ist auch die Politik gefordert, die Bestrebungen der Wirtschaft zu unterstützen (Kapitel 5). Nur wenn wir die Produktivität erhöhen und das inländische Potenzial noch besser ausschöpfen, kann die arbeitsmarktbezogene Zuwanderung gedämpft werden, ohne dass dabei ein massiver und individuell spürbarer volkswirtschaftlicher Schaden entsteht. Anstatt eine starre Begrenzung der Zuwanderung einzuführen, sollte die Schweizer Politik die Hausaufgaben im Inland machen. Der Schweizerische Arbeitgeberverband hat bereits im April 2023 einen konkreten Massnahmenplan zur besseren Ausschöpfung des inländischen Arbeitskräftepotenzials vorgestellt.
Schweizer Arbeitsmarkt: Die Fakten
Im Jahr 2010 herrschte in Europa Krisenstimmung: Die Eurokrise griff um sich, mehreren Ländern des gemeinsamen Währungsraums drohte die Zahlungsunfähigkeit. Die Europäische Union reagierte und beschloss umfangreiche Hilfsprogramme für die angeschlagenen Staaten. Auch die Europäische Zentralbank wurde aktiv und kaufte Anleihen der betroffenen Länder auf. Die Schuldenkrise stürzte den Euroraum in eine Wirtschaftskrise, in deren Folge die Erwerbslosigkeit vielerorts stark anstieg. Gerade für junge Menschen waren die Krisenjahre eine düstere Zeit, die Aussichten auf dem Arbeitsmarkt waren aufgrund der wirtschaftlichen Situation schlecht. Dies zeigte sich exemplarisch in Griechenland und Spanien, wo während der Krise mehr als die Hälfte der Jugendlichen keine Arbeit fand. Auch junge Italiener hatten es schwer, in Frankreich und Schweden war jeder vierte Jugendliche arbeitslos.
Tiefe Jugendarbeitslosigkeit in der Schweiz
Eine so hohe Jugendarbeitslosigkeit ist in der Schweiz kaum vorstellbar. Hier musste man in der jüngeren Vergangenheit keine derartigen Erfahrungen machen. Die Erwerbslosenquote der 15- bis 24-Jährigen bewegt sich seit der Jahrtausendwende auf einem moderaten Niveau. Mit Glück hat das allerdings wenig zu tun: Dass die Jugendarbeitslosigkeit in der Schweiz seit Jahren tief ist, liegt zu einem grossen Teil an den guten Rahmenbedingungen und den Unternehmen. Letztere sind wirtschaftlich erfolgreich und können den Jugendlichen ein breites Spektrum an vielversprechenden Berufsmöglichkeiten bieten. Daneben tragen die guten Rahmenbedingungen und das duale Bildungssystem einen wesentlichen Teil zum Erfolg bei.
Abbildung 1: Erwerbslosenquote der 15- bis 24-jährigen Personen (OECD)

Der liberale Schweizer Arbeitsmarkt hat in den letzten zwei Jahrzehnten gut funktioniert. Basis dafür war ein solides Wirtschaftswachstum. Trotz verschiedener Krisen konnten die Unternehmen attraktive und gut bezahlte Arbeitsplätze schaffen. Dabei haben sie auch den veränderten Bedürfnissen der Arbeitnehmenden Rechnung getragen. Das positive Beispiel der tiefen Jugendarbeitslosigkeit ist nur eines von vielen. Auch andere Arbeitsmarktzahlen unterstreichen den Erfolg. Und der Vergleich mit anderen Ländern macht deutlich, dass dieser Erfolg nicht selbstverständlich ist.
Tiefe Erwerbslosigkeit in der Schweiz
Nicht nur die Jugendlichen profitieren von den sehr guten Beschäftigungsmöglichkeiten. Die Erwerbslosigkeit der 15- bis 64-Jährigen liegt in der Schweiz seit der Jahrtausendwende bei durchschnittlich 4.4 Prozent. Dies ist einer der tiefsten Werte weltweit. Die durchschnittliche Erwerbslosenquote aller 38 Mitgliedstaaten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) liegt bei 7 Prozent.
Hohe Erwerbsquote
Die Erwerbsbeteiligung der Schweizer Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter liegt seit der Jahrtausendwende bei durchschnittlich 82.4 Prozent. Damit sind in der Schweiz deutlich mehr Personen in den Arbeitsmarkt integriert als im Durchschnitt der OECD-Länder (71 Prozent). Die Erwerbsquote war in der Schweiz bereits im Jahr 2000 hoch und ist seither weiter gestiegen.
Mehr Frauen im Arbeitsmarkt
Ein Grund für den Anstieg der Erwerbsbeteiligung ist die stärkere Integration der Frauen in den Arbeitsmarkt. Zwischen 2000 und 2022 stieg die Erwerbsquote um 7.6 Prozentpunkte auf 79.2 Prozent. Damit liegt die Frauenerwerbsquote in der Schweiz im Jahr 2022 mehr als 13 Prozentpunkte über dem Durchschnitt aller OECD-Länder.
Mehr Teilzeitarbeit mit höheren Pensen
Vor allem die zunehmende Integration der Frauen führte dazu, dass der Anteil der Teilzeitbeschäftigten anstieg. Er lag im Jahr 2023 bei 37.6 Prozent. Die Zunahme ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass viele Frauen und insbesondere Mütter nach ihrer Rückkehr in den Arbeitsmarkt zuerst in einem Teilzeitpensum arbeiten, oft auch in tiefen Pensen. Der Anteil der Teilzeitbeschäftigten mit kleinen Pensen blieb insgesamt stabil, jedoch arbeiteten 2023 weiterhin 23 Prozent der Frauen in einem Pensum unter 50 Prozent. Bei den Männern sind es gerade mal 8 Prozent.
Abbildung 2: Anteil der Teilzeit-Beschäftigten (BFS)
Gute Chancen für ältere Arbeitnehmende
Der Arbeitsmarkt bietet nicht nur jungen Menschen viele Möglichkeiten. Auch ältere Arbeitnehmende haben in der Schweiz gute Chancen. Die weit verbreitete Meinung, Ältere seien bei den Unternehmen nicht mehr gefragt, wird in den Medien gerne mit Einzelfällen untermauert. Ein nüchterner Blick auf die Zahlen zeigt jedoch ein anderes Bild: Die Erwerbsquote der 55- bis 64-Jährigen ist im internationalen Vergleich hoch (77.5 Prozent im Jahr 2023). Die Wahrscheinlichkeit, entlassen zu werden, ist geringer als in anderen Altersgruppen. Nur 4 Prozent der Nichterwerbspersonen geben mangelnde Chancen auf dem Arbeitsmarkt als Grund an, keine Arbeit zu suchen. Auch dies zeigt: Hier klaffen Wahrnehmung und Realität eklatant auseinander.[1]
Beispiel focus50plus
Die 2021 durch den Schweizerischen Arbeitgeberverband lancierte Initiative focus50plus fördert den gezielten Dialog zwischen Wirtschaft, Wissenschaft und Politik. Die vielschichtige Plattform widerlegt verbreitete Klischees über ältere Mitarbeitende und generiert neue Erkenntnisse und Methoden zur erfolgreichen Gestaltung des betrieblichen Generationenmanagements und macht dieses breiten Kreisen zugänglich. Dabei orientiert sie sich an den sich ständig verändernden Vorgaben der politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen.
Gemeinsam mit Netzwerkpartnern aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik werden Unternehmen darin unterstützt, die Arbeitsmarktfähigkeit von älteren Mitarbeitenden zu fördern sowie den Nutzen einer erfolgreichen Zusammenarbeit der Generationen in der Wirtschaft aufzuzeigen. Arbeitnehmende der Generation 50plus bringen viel Erfahrung, Kompetenz und Kontinuität ins Unternehmen.
Da immer mehr Babyboomer in Rente gehen und eine verhältnismässig kleinere Anzahl Arbeitskräfte ins Erwerbsleben eintritt, ist der Fachkräftemangel in den meisten Branchen ein akutes und viel diskutiertes Thema. Sowohl Arbeitgeber, aber auch Arbeitnehmende sind gefordert, offen zu sein für neue Arbeitsmodelle – sei es in intergenerationalen Teams zu arbeiten, Job Sharing oder Teilzeitstellen anzubieten. Arbeitgeber müssen sich von den gängigen Klischees, dass ältere Arbeitnehmende teuer und innovationsmüde sind, trennen und der Altersguillotine entgegenwirken. Ältere Arbeitnehmende müssen hingegen Lohneinsparungen und Verantwortungseinbussen akzeptieren können und offen sein für Neues.
Hier gelangen Sie zur Webseite von Focus50plus.
Beispiel Syngenta
Hier können Sie sich anschauen, wie Syngenta konkret die älteren Arbeitskräfte fördert.
Die meisten sind mit ihrer Arbeit zufrieden
In der Schweizerischen Gesundheitsbefragung (SGB) 2022 gaben mehr als vier von fünf Erwerbstätige an, mit ihrer Arbeit zufrieden zu sein. Die Arbeitsplätze in der Schweiz bieten im europäischen Vergleich viel individuellen Gestaltungsspielraum, interessante Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten sowie gute Aufstiegschancen und Mitsprachemöglichkeiten.[2] Die jüngste Schweizerische Arbeitskräfteerhebung (SAKE) zeigt zudem, dass heute rund die Hälfte der Arbeitnehmenden von flexiblen Arbeitszeiten profitiert.
Löhne, Wohlstand und Freizeit steigen
Seit der Jahrtausendwende sind die Löhne gestiegen, der Reallohnindex hat bis 2023 um mehr als 12 Prozent zugelegt. Die Erhebung der Konjunkturforschungsstelle (KOF), die auf der AHV-Lohnsumme basiert, zeigt gar eine noch bessere Entwicklung der Reallöhne. Für beide Indizes war der Anstieg vor dem inflationsbedingten Rückgang in der jüngeren Vergangenheit sogar noch höher. Die letzten Jahre haben auch gezeigt, wie wichtig die Preisstabilität für die Kaufkraft der Arbeitnehmenden ist. So führte die hohe Inflation in den letzten drei Jahren zu Reallohnrückgängen. Im internationalen Vergleich sind die Löhne ausgesprochen hoch. Zudem ist die internationale Kaufkraft der Schweizer Konsumentinnen und Konsumenten, auch dank dem starken Franken, herausragend. 72 Prozent der Erwerbstätigen fühlen sich für ihre Arbeit angemessen entlohnt.[3] Dank der positiven Wirtschaftsentwicklung ist der Pro-Kopf Wohlstand gestiegen, während gleichzeitig die verfügbare Freizeit zugenommen hat.[4]
Die Arbeitsmarktzahlen zeigen, dass sowohl die Unternehmen als auch die Arbeitnehmenden in der Schweiz hervorragende Arbeit leisten. Die meisten Menschen sind in den Arbeitsmarkt integriert und mit ihrer Arbeit und ihrem Lohn zufrieden. Insbesondere ist es den Unternehmen in den letzten 20 Jahren gelungen, die Arbeit den veränderten Bedürfnissen der Arbeitnehmenden anzupassen. Wir befinden uns deshalb heute in einer Situation, in der das inländische Potenzial bereits recht gut ausgeschöpft ist.
Der Arbeitskräftemangel wird eine grosse Herausforderung
Nun stellt sich natürlich die Frage, ob die Erfolgsgeschichte auch in Zukunft weitergeschrieben werden kann. Die Schweiz profitierte in den vergangenen Jahrzehnten von einer demografischen Dividende: Die geburtenstarken Jahrgänge waren bisher im erwerbsfähigen Alter. Entsprechend stand den Unternehmen ein grosses Arbeitskräftereservoir zur Verfügung. Diese Entwicklung hat sich 2020 ins Gegenteil gekehrt. Die Babyboomer scheiden altersbedingt nach und nach aus dem Arbeitsmarkt aus, und weil die Geburtenrate seit langem tief ist, kann dieser Wegfall nicht durch nachrückende junge Menschen kompensiert werden. Das wirkt sich negativ auf das inländische Arbeitskräfteangebot aus.[5]
Was bedeutet diese Entwicklung für den Schweizer Arbeitsmarkt? In der Schweiz herrscht bereits heute ein Arbeitskräftemangel. Kurzfristig wird es eher von der konjunkturellen Entwicklung abhängen, wie stark sich der Mangel akzentuiert oder abschwächt. Mittel- bis langfristig wird sich der Arbeitskräftemangel aber strukturell verschärfen, weil Arbeitsangebot und -nachfrage auseinanderklaffen: Das Angebot an inländischen Arbeitskräften wird aufgrund der demografischen Entwicklung weiter sinken. Die Nachfrage hingegen wird trotz höherer Arbeitsproduktivität steigen müssen. Andernfalls wird es nicht möglich sein, den Wohlstand pro Kopf in dem Ausmass zu erhöhen, wie dies der Schweiz in den letzten zwei Jahrzehnten gelungen ist.
Warum nutzt die wirtschaft das BIP pro Kopf als Zielgrösse
Um die zusätzliche Nachfrage zu berechnen, verwendet die Wirtschaft das Bruttoinlandprodukt (BIP) pro Kopf als Zielgrösse. Die Annahme ist, dass das BIP pro Kopf analog der Entwicklung seit 2000 weiter steigen wird. Nun könnte man sich fragen, warum das BIP pro Kopf weiter steigen soll. Schliesslich hat die Schweiz im internationalen Vergleich bereits ein hohes Wohlstandsniveau. Das liegt an der demografischen Entwicklung: Einer sinkenden Zahl von Erwerbstätigen steht eine wachsende Zahl von Nichterwerbstätigen resp. Pensionierten gegenüber. Das bedeutet, dass für ein konstantes BIP pro Kopf der Gesamtbevölkerung die Wirtschaftsleistung der Erwerbstätigen steigen muss. Bei einem konstanten BIP pro Kopf müssten die Erwerbstätigen mehr leisten, ohne dafür entschädigt zu werden, müssten sie doch deutlich mehr zur nichterwerbsfähigen Bevölkerung umverteilen. Nur so könnte der Wohlstand beispielsweise bei den Pensionierten konstant bleiben. Doch das wiederum mindert den Anreiz für die Erwerbstätigen, diese Zusatzleistung zu erbringen. Fazit: Nur ein steigendes BIP pro Kopf setzt für die Erwerbstätigen die richtigen Anreize, ohne dass der Wohlstand der übrigen Bevölkerung sinkt.
Wie viele Arbeitskräfte fehlen?
Die Wirtschaft hat ein Szenario erarbeitet, das die Entwicklung von Arbeitsangebot und -nachfrage auf dem Arbeitsmarkt in den nächsten 10 Jahren prognostiziert. Die Schätzung des Angebots basiert im Wesentlichen auf dem mittleren Bevölkerungsszenario des Bundesamts für Statistik (BFS). Die Berechnungen zeigen, dass sich das inländische Angebot bis 2035 verglichen mit heute um rund 297’000 Vollzeit-Beschäftigte reduzieren wird. Auf der anderen Seite wären zusätzliche 163’000 Vollzeit-Beschäftigte notwendig, um die Wohlstandentwicklung der letzten Jahre fortzuschreiben – dies unter der Annahme einer linear steigenden Arbeitsproduktivität. Zusammengefasst schätzt die Wirtschaft, dass in der Schweiz in 10 Jahren rund 460’000 Vollzeitbeschäftigte fehlen werden.
Abbildung 3: Prognose zum Schweizer Arbeitsmarkt bis 2035
Wie füllen wir diese Lücke?
Es gibt zwei grosse Hebel, um dem zu begegnen: Die bessere Nutzung des inländischen Arbeitskräftepotenzials und die Steigerung der Produktivität. Trotz dieser Anstrengungen im Inland ist aber unbestritten, dass wir auch künftig auf Arbeitsmigration, das heisst auf eine arbeitsmarktbezogene Zuwanderung angewiesen sein werden. Aber eben subsidiär und möglichst sozialverträglich.
Im Bereich der besseren Nutzung inländischer Arbeitskräfte stehen die Frauen respektive Mütter sowie die Bürgerinnen und Bürger über 65 Jahren im Zentrum. Hier sind die ungenutzten Potenziale am grössten – und die Fehlanreize ebenso.
Bei den Müttern geht es in erster Linie um die Möglichkeit von Teilzeitarbeit und flexible Arbeitszeiten sowie um die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Diesbezüglich ist die Bereitstellung von erschwinglicher und zugänglicher, externer Kinderbetreuung von hoher Bedeutung. Auch steuerliche Anreize spielen eine Rolle. Wichtige Stichworte sind hier die Individualbesteuerung und die Steuerprogression.
Was die bessere Nutzung der Arbeitskräfte über 65 Jahre betrifft, gibt es viele Stellschrauben, angefangen bei der Wertschätzung ihrer Erfahrung in den Unternehmen, über die Rahmenbedingungen in den Betrieben bis hin zu den staatlichen Rahmenbedingungen. Es muss sich auch finanziell lohnen, über das ordentliche Rentenalter hinaus erwerbstätig zu sein.
Doch auch wenn die Ressourcen der Mütter und der älteren Arbeitnehmenden über 65 Jahren deutlich besser genutzt werden, verbleibt noch immer eine grosse Arbeitskräftelücke. Um diese zu schmälern, gilt es, produktiver und effizienter zu werden. Grosses Potenzial besteht insbesondere im Bereich der Digitalisierung von Verwaltungsprozessen und etwa bei Unternehmensgründungen: Hier sind der Schweiz insbesondere skandinavische Länder, aber auch Singapur und Neuseeland zwei Schritte voraus.
Die Wirtschaft schätzt, dass mit entsprechenden Massnahmen bei den Frauen rund 48’000 und bei den 65- bis 69-Jährigen rund 37’000 Erwerbstätige zusätzlich ausgeschöpft werden können (beide Zahlen widerspiegeln Vollzeitäquivalente). Weitere Potenziale bestehen z.B. bei Menschen mit einer körperlichen Beeinträchtigung oder Migrantinnen und Migranten. Auf der anderen Seite kann mit einer überdurchschnittlichen Produktivitätssteigerung der Bedarf um knapp 63’000 Beschäftigte (wiederum in Vollzeitäquivalenten) verkleinert werden.
Die Antwort der Wirtschaft
Die Unternehmen spüren seit ein paar Jahren, dass Arbeitskräfte knapper werden. Es fällt ihnen schwerer als früher, geeignete Arbeitskräfte zu finden und offene Stellen zu besetzen. Die Branchen sind bereits mehrheitlich von diesem Mangel betroffen. Man spricht deshalb heute weniger von einem Fachkräfte- als viel mehr von einem Arbeitskräftemangel. Aufgrund der Demografie wird sich das Problem auf weitere Sektoren ausweiten.
Es ist eine Stärke der Schweizer Unternehmen, dass sie sich rasch an veränderte Rahmenbedingungen anpassen können. Das Problem des zunehmenden Arbeitskräftemangels haben viele Unternehmen, insbesondere in stark betroffenen Branchen, schon länger erkannt. In einer Umfrage von economiesuisse im Mai 2024 gaben fast zwei Drittel der 448 teilnehmenden Unternehmen an, bereits eine oder mehrere Massnahmen getroffen zu haben.
Abbildung 4: Massnahmen der Unternehmen (Umfrage vom Mai 2024)
Beispiel Bossard
Bossard bietet ihren Mitarbeitenden mit einem Seniorenkonzept die Möglichkeit, in den Jahren vor dem offiziellen Referenzalter durch zusätzliche Freizeit ihren Alltag den veränderten Bedürfnissen und dem individuellen gesundheitlichen Wohlbefinden anzupassen.
Ab dem 60. Altersjahr können die langjährigen, verdienten Vollzeit-Mitarbeitenden der Bossard AG die Arbeitszeitbedingungen ihrer physischen oder psychischen Belastbar- und Leistungsfähigkeit anpassen. Dies auf freiwilliger Basis, wenn mit der betrieblichen Situation vertretbar und vom direkten Vorgesetzten genehmigt. Sie können beispielsweise 52 zusätzliche Ferientage erwerben, welche im selben Kalenderjahr einzeln oder in Blöcken bezogen werden. Dabei gehen sie aber nicht wie rechnerisch korrekt wäre, eine Lohnreduktion von 20 Prozent ein, sondern nur eine Lohnreduktion von 10 Prozent; die restlichen 10 Prozent der Lohnkosten werden grosszügigerweise von der Arbeitgeberin übernommen.
Diese Form von Altersteilzeit ist eine sinnvolle Lösung mit dem Ziel, ältere Mitarbeitende bis zum Referenzalter bedürfnisgerecht zu beschäftigen. Darüber hinaus gibt es bei Bossard auch diverse Beispiele, bei denen Mitarbeitende über ihr Referenzalter hinaus länger beschäftigt werden, um so ihre langjährige und wertvolle Expertise länger im Unternehmen zu behalten. Dies geschieht beispielsweise auf Basis von flexiblen Teilzeit- oder auch im Rahmen von Stundenlohnanstellungen.
Hier gelangen Sie zur Webseite von Bossard.
Aus- und Weiterbildungen
Fast die Hälfte der Unternehmen, die Massnahmen ergriffen haben, hat ihr Angebot für Arbeitnehmende im Bereich der Aus- und Weiterbildung ausgebaut. Einerseits spielen die Unternehmen in der beruflichen Grundbildung eine wichtige Rolle, da sie Lehrlinge ausbilden und einen Grossteil der Ausbildungskosten tragen. Um dem Arbeitskräftemangel entgegenzuwirken, haben viele Lehrbetriebe ihr Angebot ausgebaut oder planen künftig mehr Lehrstellen anzubieten. Andererseits unterstützen die Unternehmen ihre Mitarbeiter bei Weiterbildungen, entweder finanziell oder mit eigenen Programmen. Auch hier wollen die Unternehmen noch mehr tun als bisher. Ausserdem werden auch vermehrt Mitarbeiter umgeschult und es entstehen zusätzliche Programme für Quereinsteiger.
Anstellungsbedingungen
Über ein Drittel der Unternehmen, die Massnahmen ergriffen haben, zielen darauf ab, die Anstellungsbedingungen attraktiver zu gestalten. Die Löhne sind dabei ein Aspekt, aber nicht der einzige. Weitere mögliche Hebel sind die Flexibilisierung der Arbeitszeiten, die Verbesserung der internen Aufstiegsmöglichkeiten und die Übertragung von mehr Kompetenzen an die Mitarbeiter. Zudem setzen die Unternehmen alles daran, um ein möglichst angenehmes Arbeitsklima zu schaffen. Sie investieren in Ausrüstung und Arbeitsmittel, z.B. in Form einer modernen und leistungsstarken IT-Infrastruktur. Mit weiteren Fringe Benefits versuchen die Unternehmen, für neue Mitarbeiter attraktiv zu sein. Die Massnahmen haben auch zum Ziel, Mitarbeiter langfristig halten zu können und Fluktuationen zu verringern.
Rekrutierung
Schliesslich hat etwas weniger als ein Drittel der Unternehmen Massnahmen im Bereich der Rekrutierung umgesetzt. Dabei geht es einerseits um die Nutzung neuer Kanäle bei Ausschreibungen, insbesondere im Bereich der sozialen Medien. Andererseits soll das bestehende Netzwerk besser genutzt und ausgebaut werden, um potenzielle Mitarbeiter zu erreichen. Als Beispiele werden Vermittlungsprämien für Mitarbeiter, Kooperationen mit Hochschulen und der Austausch mit ausländischen Niederlassungen genannt. Eine Minderheit der Unternehmen hat auch die Rekrutierung im Ausland verstärkt oder versucht, Mitarbeiter von anderen Unternehmen abzuwerben.
Jetzt ist auch die Politik gefordert
Der Schweizer Arbeitsmarkt seit der Jahrtausendwende ist eine Erfolgsgeschichte. Dies belegen etwa die äusserst guten Arbeitsmarktzahlen. Dank des wirtschaftlichen Erfolgs können die Unternehmen den Arbeitnehmenden in der Schweiz attraktive Stellen anbieten. Und in der Vergangenheit konnten diese Stellen auch ohne grössere Probleme besetzt werden, weil genügend Erwerbstätige zur Verfügung standen. Doch nun erreichen die geburtenstarken Jahrgänge das Pensionsalter und es rücken zu wenig Junge nach. Aufgrund der demografischen Entwicklung schrumpft die inländische Erwerbsbevölkerung. Der bereits bestehende Mangel an Arbeitskräften wird sich deshalb in den nächsten Jahren verschärfen.
Nichtstun heisst weniger Wohlstand und tiefere Lebensqualität
Der Schweiz muss es in den kommenden Jahren gelingen, die Potenziale im Inland noch besser auszuschöpfen. Andernfalls wird sich der Arbeitskräftemangel zu einem immer grösseren Bremsklotz für die Wirtschaft entwickeln. Und gerade mit Blick auf die demografische Entwicklung, die in den nächsten Jahren in einigen Bereichen zu deutlich höheren Ausgaben führen wird, kann sich die Schweiz eine lahmende Wirtschaft nicht leisten. Nichtstun bedeutet Wohlstandsverlust.
Die Unternehmen allein können es nicht richten
Viele Unternehmen haben das Problem erkannt und kämpfen mit verschiedenen Massnahmen gegen den Arbeitskräftemangel und nehmen Ihre Verantwortung wahr. Klar ist aber auch: Die Unternehmen allein werden es nicht schaffen. Um das inländische Potenzial noch besser ausschöpfen zu können, muss auch die Politik aktiv werden. Die Rahmenbedingungen müssen verbessert werden, damit sich mehr und länger Arbeiten lohnt. Im Fall von Haushalten mit Kindern müssen die entsprechenden finanzierbaren Betreuungsstrukturen bereitgestellt werden. Das starre Arbeitsgesetz muss an die heutigen Präferenzen der Arbeitnehmer angepasst und die Bildung stärker auf die Bedürfnisse des Arbeitsmarkts ausgerichtet werden. Ein weiterer Hebel ist die erwähnte Steigerung der Arbeitsproduktivität. Auch dieses ambitionierte Ziel kann nur erreicht werden, wenn die Rahmenbedingungen verbessert werden. Die Schweiz muss ihre Innovationsfähigkeit erhalten und die Unternehmen müssen wettbewerbsfähig bleiben. Das bedeutet für den Staat, Freiräume zu schaffen und bürokratische Hürden abzubauen, selbst produktiver zu werden und sein Wachstum stark zu drosseln. Schliesslich zeigt die Prognose der Wirtschaft, dass es auch mit allen in diesem Papier thematisierten Massnahmen nicht reichen wird, um die gesamte Lücke in den nächsten Jahren mit inländischen Massnahmen zu decken. Deshalb ist es wichtig, dass auch in Zukunft eine bedarfsgerechte Zuwanderung möglich bleibt. Wie hoch dieser Bedarf sein wird, hängt vor allem davon ab, wie konsequent und erfolgreich die genannten Massnahmen umgesetzt und so das inländische Arbeitskräftepotenzial noch besser ausgeschöpft werden kann.
→ 8-Punkte-Plan zur besseren Ausschöpfung des inländischen Arbeitskräftepotenzials des Schweizerischen Arbeitgeberverbands
→ Massnahmen zur Steigerung der Arbeitsproduktivität von economiesuisse