Der Sozialpolitik steht eine Zeitenwende bevor

24. Juni 2015 Medienbeiträge

Die auslaufende Legislatur war sozialpolitisch ernüchternd: Das Parlament liess die IV-Revision 6b scheitern, und der Bundesrat klammerte sich an seiner teuren Altersvorsorge-Reform fest. Die Politik sollte erkennen, dass die demografische Alterung und die drohende Zuwanderungsbeschränkung eine neue sozialpolitische Ära einläuten. Dabei gilt: Die Sozialpolitik muss für die schrumpfende Zahl der Erwerbstätigen und deren Arbeitgeber finanzierbar bleiben.

Erinnern Sie sich – es ist nur vier Jahre her: «Das wird die Legislatur der Altersvorsorge-Reform.» «Jetzt oder nie.» So lautete der Tenor vor dem Start in die bald abgelaufene Legislatur. Und die letzte Etappe der nachhaltigen IV-Sanierung war auf der Zielgeraden. Und heute? Nichts von alledem.

Die Versenkung der IV-Revision 6b war ein Fehlstart in die Legislatur. An ihr Versprechen, die befristete Zusatzfinanzierung der IV an eine nachhaltige Sanierung zu binden, scheint sich die Politik nicht mehr zu erinnern. Altersvorsorge? Der Bundesrat versuchte einen Befreiungsschlag. Nun ist es an der ständerätlichen Sozialkommission, innert weniger Monate eine tragfähige Vorlage zu entwickeln und durch den Erstrat zu peitschen. Angesichts der überladenen bundesrätlichen Botschaft eine grosse Aufgabe. Vielleicht schafft es wenigstens der mühsam errungene Sozialpartner-Kompromiss zur UVG-Revision nach einer über zehnjährigen Leidensgeschichte noch in dieser Legislatur ins Ziel? Nicht ausgeschlossen.

Und sonst? Zwar wurden die Ergänzungsleistungen als neuer Brandherd lokalisiert. Doch legt der Bundesrat seine per Herbst 2014 angekündigte Vernehmlassungsvorlage wohl erst nach den Wahlen vor. Ob sie dann tatsächlich auch die nötigen strukturellen Reformen aufgreift, muss sich erst noch weisen. Auch die nächste IV-Revision, die laut Bundesrat rein qualitativ, also ohne jegliche Einsparungen ausfallen soll, wird erst in der neuen Legislatur gestartet. Immerhin könnte die nationalrätliche Kommission die Behandlung der sistierten Massnahmen aus der IV-Revision 6b mit einem Sparpotenzial von hundert Millionen Franken pro Jahr rasch wieder aufnehmen. Könnte. Naiv, wer glaubt, das sei vor den Wahlen realistisch. Dafür wird die Liste der Vorstösse immer länger, die beispielsweise neue Urlaubsmodelle wünschen – etwa für werdende Väter. Unter Hinweis auf die gut gefüllte Kasse der Erwerbsersatzordnung (EO). Weit gefehlt: Die EO ist nur dank der bis Ende Jahr befristeten Erhöhung der Lohnbeiträge auf Kurs.

Damoklesschwert demografische Alterung

Bald dürfte es breiteren Kreisen klar werden, dass der Sozialpolitik eine Zeitenwende bevorsteht. Die Aufhebung des Mindestkurses zeigt: Die Währungspolitik hat geleistet, was sie konnte. Nun müssen die Staaten endlich ihre Hausaufgaben machen und Strukturreformen anpacken. Allen voran in der Sozialpolitik. Doch genügt es nicht, dabei mit dem Finger auf die andern zu zeigen. Denn dies gilt auch für die Schweiz. Der Megatrend demografische Alterung fordert auch unseren Sozialstaat heraus. Eine stetig wachsende Zahl von Arbeitskräften steigerte unseren Wohlstand und ermöglichte den Ausbau unserer Sozialwerke. Doch damit ist bald Schluss. Der Anteil der arbeitenden Bevölkerung geht zurück – während der Anteil im Ruhestand wächst.

Der Schweiz macht aber nicht nur die demografische Alterung zu schaffen. Die drohende Zuwanderungsbeschränkung trifft die Sozialversicherungen gleichermassen. Zuwanderung, Wachstum, Jobs, Lohnsumme und Sozialversicherungs-Beiträge stehen in einem engen Verhältnis zueinander. Soziale Wohlfahrt gründet auf nachhaltigem Wachstum. Gewinner der Personenfreizügigkeit waren also nicht zuletzt auch die beitragsfinanzierten Sozialwerke. Die Masseneinwanderungs-Initiative muss auch vor diesem Hintergrund werkplatzfreundlich umgesetzt werden.

Jüngst kursierte die Geschichte eines Optikunternehmens, das wegen des hiesigen Mangels an Optometristen seine Spezialisten nahezu komplett im Ausland rekrutieren muss. Das Beispiel verdeutlicht besagten Zusammenhang zwischen bedarfsorientierter Zuwanderung und Prosperität: Im Zuge des 1999 unterzeichneten Freizügigkeitsabkommens und dessen Erweiterung 2006 stieg der Umsatz des Unternehmens jeweils sprunghaft an – insgesamt von 6 auf 219 Millionen Franken. Dabei entstanden viele neue Jobs für Inländer. Denn ohne Optometristen aus Frankreich hätte der Unternehmer keine neuen Filialen eröffnet und damit auch keine Arbeitsplätze für Inländer geschaffen.

Würde die Personenfreizügigkeit gekippt, so hätte dies zudem konkrete Auswirkungen auf unsere Sozialinfrastruktur. Krankenhäuser oder Altersheime sind schlichtweg auf ausländische Fachkräfte angewiesen. Umso mehr, als in einer alternden Gesellschaft ein belastbares und erstklassiges Gesundheits- und Pflegewesen essenziell ist.

Fokus auf das Wesentliche!

Der starke Franken bietet schon einmal einen Vorgeschmack auf die kommenden Zeiten. Die Stagnation am Stellenmarkt und die negative Teuerung dämpfen das Lohnwachstum und hinterlassen schon bald Bremsspuren in der AHV- und IV-Kasse. Die sinkenden Preise mindern zudem die Mehrwertsteuer-Einnahmen. Beides wird die Aussichten der Sozialversicherungen deutlich eintrüben – bei einem zugleich erhöhten Bedarf aufgrund der demografischen Alterung.

Bundesrat und Parlament müssen erkennen: Für die Sozialpolitik bricht eine neue Ära an. Was tun also? Die Sozialpolitik muss sich auf das Wesentliche fokussieren und so gestaltet werden, dass sie für die schrumpfende Zahl der Erwerbstätigen und deren Arbeitgeber finanzierbar bleibt. Und zwar mit einer abgespeckten Reform der Altersvorsorge, ausgerichtet auf die Erhaltung des heutigen Leistungsniveaus, aber ohne jeglichen Ausbau. Allein dafür ist eine moderate Zusatzfinanzierung nötig.

Die anderen Brandherde müssen aber ohne zusätzliche Mittel auskommen. Bei der IV reicht eine qualitative Reform deshalb nicht. Weitere vertretbare Sparmassnahmen sind unvermeidlich. Und bei den Ergänzungsleistungen muss eine grundlegende Strukturreform an die Hand genommen werden. Ausbauwünsche zulasten der EO sind sodann strikte abzulehnen. Stattdessen muss der Bundesrat die Lohnbeiträge möglichst auf das frühere Niveau absenken. Summa summarum muss der Politik klar werden: Die Mehrbelastung des Faktors Arbeit ist Gift für unsere Sozialwerke. Mit Blick auf die demografische Alterung umso mehr.

Der Gastkommentar von Martin Kaiser ist in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen.