«Es braucht keinen Aktivismus, aber aktive Weiterentwicklung»

18. April 2017 Medienbeiträge

Die Schweizer Berufsbildung ist ein Erfolgsmodell. Wie muss sie sich ausrichten, um kommenden Herausforderungen gewachsen zu sein? Dieser Frage hat sich das Gremium «Berufsbildung 2030» angenommen. Mit in der Expertengruppe ist auch Jürg Zellweger. Er ist Ressortleiter Berufsbildung des Schweizerischen Arbeitgeberverbands.

Herr Zellweger, alle schwärmen von der Schweizer Berufsbildung. Was macht sie aus?
Die Berufsbildung ist das Fundament für Schweizer Qualitätsarbeit in fast allen Bereichen der modernen Arbeitswelt. Zwei Drittel aller Jugendlichen absolvieren nach der Schulzeit eine Berufslehre und setzen damit den Grundstein für eine erfolgreiche Laufbahn. Die Unternehmen profitieren von gut ausgebildeten Berufsleuten, die Schwung bringen und tolle Arbeit leisten. Die Berufsbildung ist eine praxisnahe und vollwertige Bildung und bietet attraktive Weiterbildungsmöglichkeiten.

Sehen Sie auch Schwächen?
Ich habe den Eindruck, dass das Wissen über die moderne Berufsbildung noch nicht bei allen Eltern angekommen ist. Ebenso muss sich die Berufsbildung im internationalen Kontext – wo oft rein schulische Systeme dominieren – zu oft erklären. Letztlich steht und fällt die Qualität der Berufslehre mit den rund 70’000 Ausbildungsbetrieben. Das ist Stärke und Herausforderung des Systems zugleich. Mit Blick auf die Zukunft müssen wir überlegen, welche Bildungsinhalte entrümpelt und welche neuen Inhalte – wie zum Beispiel IT- oder Fremdsprachenkompetenzen – integriert werden sollen.

«Es muss sich alles ändern, damit alles so bleibt, wie es ist»: Gilt dieses bekannte Zitat auch für die Berufsbildung?
Ich würde eher sagen: «Stillstand ist Rückschritt». Das Berufsbildungssystem ist anpassungsfähig und stark auf Wirtschaft und Arbeitsmarkt ausgerichtet. Es ist dauernd in Bewegung – und das ist gut so. Wir müssen am Ball bleiben, doch sobald Anpassungen nötig sind, wird es komplex. Verbände, Kantone, Bund, Arbeitnehmerorganisationen und Bildungsinstitutionen: Es gibt viele Schnittstellen, alle Akteure sind tangiert und haben ihre Interessen. Hier darf der Überblick nicht verloren gehen, die fundamentalen Ziele müssen im Fokus behalten werden.

Die Wirtschaft verändert sich rasant. Welches sind die wichtigsten Trends und Entwicklungen?
Die Verlagerung der Beschäftigung vom industriellen Sektor zum Dienstleistungssektor geht weiter. Aber auch innerhalb der Sektoren gibt es unterschiedliche Bewegungen. Die internationalen Verflechtungen nehmen weiter zu: Das wirkt sich nicht nur auf die Produktions- und Handelsketten aus, sondern auch immer mehr auf die Dienstleistungen. Die Digitalisierung zeigt sich in neuen Geschäftsmodellen und verändert damit die Arbeitswelt: Neue Tätigkeiten entstehen, andere fallen weg, die Arbeitsbeziehungen zwischen Mitarbeitenden und Unternehmen werden flexibler.

Welche Trends beeinflussen die Berufsbildung ganz besonders?
Alle. Branchen mit hohem Engagement in der Berufsbildung sind durch den Strukturwandel besonders herausgefordert. Das Beschäftigungswachstum findet teilweise im akademisierten Umfeld statt, so etwa in der Verwaltung oder im Bildungs- und Gesundheitswesen. Die Berufsbildung ist zudem eine Spezialität der deutschsprachigen Länder. Sie muss sich im internationalen Umfeld teilweise erklären, was derzeit allerdings recht gut gelingt. Die Herausforderungen der Digitalisierung wird die Berufsbildung stemmen können: Ein Grossteil der Ausbildung findet in den Betrieben statt. Diese müssen sich laufend den digitalen Standards anpassen.

An der Verbundpartnertagung wurden Visionen für die Berufsbildung 2030 formuliert. Welches sind die wichtigsten?
Zentral sind sicher die Flexibilität und Durchlässigkeit des Bildungssystems. Wie die Zukunft tatsächlich aussieht, weiss niemand genau. Also wappnet man sich am besten mit einem Portfolio an verschiedenen Instrumenten. Wichtig sind auch lebenslanges Lernen und die damit verbundene stärkere Ausrichtung der Berufsbildung auf Erwachsene. Gleichzeitig sollte man versuchen, Kompetenzen zu identifizieren und zu vermitteln, die Trends überdauern.

Wie schätzen Sie den Handlungsbedarf ein? Braucht es einen massiven Umbau des Systems – oder genügen leichte Retuschen?
Es braucht keinen Aktivismus, aber aktive Weiterentwicklung: Die Reaktionsfähigkeit des Aus- und Weiterbildungssystems ist recht hoch. Es gibt genügend Spielraum, damit die zuständigen Institutionen und Akteure reagieren können. Aber sie müssen es wirklich tun und sich nicht gegenseitig blockieren, sondern eine gemeinsame Stossrichtung entwickeln. Das ist denn auch ein Ziel von Berufsbildung 2030.

Was ist den Unternehmen bei der Weiterentwicklung der Berufsbildung besonders wichtig?
Die Unternehmen wollen verständliche Ausbildungen, die sie mit vernünftigem Aufwand anbieten können. Inhaltlich muss es um Kompetenzen gehen, welche auch künftig gefragt sind. Beide Anforderungen sind auszubalancieren. Die Unternehmen steuern über die Verbände die Berufsbildung in ihren Branchen selber. Es ist wichtig, dass sie diese strategische Aufgabe wahrnehmen – durch Mitarbeit in Verbandsgremien oder Expertentätigkeit an Berufsfachschulen.

Das Interview mit Jürg Zellweger ist in der Berner Zeitung erschienen.