«Die EU kann dauernd Rechtsunsicherheit schaffen»

5. Februar 2018 Medienbeiträge

Valentin Vogt, Präsident der Arbeitgeber, plädiert für ein Rahmenabkommen zwischen der Schweiz und der EU. Der SVP wirft er vor, aus wahltaktischen Überlegungen blind Opposition dagegen zu betreiben.

Wie beurteilen Sie den Einstieg von Bundesrat Cassis als Aussenminister?
Er hat ein anspruchsvolles Dossier übernommen. Bundesrat Cassis will mit einer klaren Strategie im Europadossier verhandeln; er will auch, dass der Bundesrat mit einer Stimme spricht, und das im Dialog mit der Bevölkerung. Das ist positiv. Wir werden den Aussenminister in seinen Bemühungen unterstützen.

Was ist aus Ihrer Sicht wichtig an der Strategie des Bundesrats in der Europafrage?
Wir brauchen einen guten Zugang zum EU-Markt mit Rechtssicherheit. Und es braucht eine Lösung, die den Test der Volksabstimmung überstehen wird. Diese beiden Punkte sind zentral.

Braucht die Schweiz ein Rahmenabkommen mit der EU?
Ja. Für die Rechtssicherheit im Land ist dies wichtig. Um jeden Preis muss man das Abkommen aber nicht anstreben – es bringt nichts, eine Vereinbarung zu treffen, die dann vor dem Volk durchfällt. Qualität kommt vor Zeit. In den kommenden zehn bis zwölf Monaten gibt es offensichtlich ein Zeitfenster. Ich hoffe, man kann dieses nutzen.

Die EU ist zuletzt dazu übergegangen, der Schweiz Nadelstiche zu versetzen: Nichtanpassung der technischen Handelshemmnisse, graue Liste der Steuerparadiese, Börsen-Äquivalenz nur auf ein Jahr hinaus. Wie treffen diese Massnahmen die Schweizer Wirtschaft?
Wenn es uns nicht gelingt, mit der EU ein Rahmenabkommen abzuschliessen, wird es so weitergehen. Jedes Mal wird Rechtsunsicherheit geschaffen, und es entsteht zusätzliche unnötige Arbeit; das ist nicht gut.

Bundesrat Maurer scheint nicht überzeugt von der Notwendigkeit eines Rahmenabkommens.
Der Bundesrat ist eine Kollegialbehörde. Die beiden SVP-Bundesräte werden die Meinung des Gesamtbundesrats akzeptieren müssen. Es scheint mir, dass die SVP schon aus wahltaktischen Gründen keinem Abkommen zustimmen kann – unabhängig davon, wie der Inhalt des Abkommens aussieht. Das bedaure ich.

Das bedeutet, dass die SP mit ins Boot der FDP und der CVP geholt werden muss.
Es braucht eine Allianz von allen, die von den Vorteilen der bilateralen Verträge überzeugt sind und damit auch an der Personenfreizügigkeit festhalten wollen.

Unter welchen Bedingungen würden Sie ein Rahmenabkommen ablehnen?
Im Fokus steht die Frage, wie ein Streit zwischen der Schweiz und der EU beigelegt wird. Die Schweiz braucht ein akzeptables und damit mehrheitsfähiges Streitschlichtungsverfahren. Das wäre aus meiner Sicht mit einem Schiedsgericht möglich, so dass man nicht länger von «fremden Richtern» sprechen kann, die über die Auslegung der bilateralen Verträge bestimmen.

Bundesrat Cassis sagt, es brauche weitere Abkommen für ein grösseres Paket, das man dem Volk vorlegen kann. Das nennt man dann Bilaterale III. Wo braucht die Schweiz weitere Abkommen für den Marktzugang?
Ich finde es gut, dass man sich bei den kommenden Verhandlungen nicht nur auf die Streitbeilegung fokussiert. Finanzdienstleistungen sind ein Thema und sicher auch ein Stromabkommen mit der EU. Die Branchen, die Interesse daran haben, ein Abkommen für ihre Märkte mit der EU abzuschliessen, müssen dies dem Bundesrat bis Ende Februar mitteilen. Es braucht nun eine Gesamtschau. Auch die Kohäsionsmilliarde für Osteuropa gilt es zu berücksichtigen.

Die SVP sammelt Unterschriften für die Kündigung der Personenfreizügigkeit.
Ein Vorbote der nationalen Wahlen 2019. Ich finde es begrüssenswert, dass das Volk über die Personenfreizügigkeit und damit die bilateralen Verträge abstimmen kann.

Wie erklären Sie der Bevölkerung die Vorteile der bilateralen Verträge?
In den letzten Jahren ist das Verständnis in der Bevölkerung für die bilateralen Verträge durch die vielen Diskussionen gewachsen. Man muss die Fakten anschauen: Die Schweiz hatte noch nie ein so hohes Bruttoinlandprodukt, der Wohlstand war noch nie so gross, es gab noch nie so viele Erwerbstätige wie jetzt. Die EU ist nach wie vor unser wichtigster Handelspartner, auch wenn andere Staaten an Bedeutung gewinnen.

Was sagen Sie zum Argument, die EU habe auch dann ein Interesse daran, die bilateralen Verträge mit der Schweiz weiterzuführen, wenn die Schweiz aus der Personenfreizügigkeit aussteigt?
Sie haben vorher die Nadelstiche der Europäischen Union erwähnt. Die EU kann dauernd Rechtsunsicherheit schaffen. Ausserdem ist die Guillotine-Klausel unmissverständlich: Wenn wir die Personenfreizügigkeit aufgeben, werden wir ein massives Problem haben, dann fallen alle anderen sechs Abkommen der Bilateralen I weg. Andererseits denke ich, dass in der EU punktuelle Korrekturen an der Personenfreizügigkeit vorgenommen werden, weil mehrere Mitgliederländer sich auch Korrekturen wünschen. Grundsätzlich geht es um folgende Frage: Die Schweiz ist für Investoren unter anderem darum attraktiv, weil wir als Hort der politischen Stabilität gelten – wollen wir das wirklich aufs Spiel setzen? Rechtsunsicherheit ist Gift für die Schweiz.

Nun hat die SVP diese Woche auch die flankierenden Massnahmen attackiert, die mit der Personenfreizügigkeit eingeführt wurden. Sie sagt, die flankierenden Massnahmen nützten vor allem den Gewerkschaften.
Was Frau Nationalrätin Martullo-Blocher über dieses Thema sagte, war sehr einseitig. Man kann von 100 Punkten zwei herauspicken, diese negativ beleuchten und die anderen 98 Punkte weglassen. Der Arbeitgeberverband unterstützt die flankierenden Massnahmen. Wir sind aber klar gegen einen weiteren Ausbau. Es gibt Branchen, in denen die Gefahr von Lohndumping besteht. Da muss man eingreifen. Die flankierenden Massnahmen waren Teil der Verhandlungen mit den Arbeitnehmenden, als wir die Personenfreizügigkeit in der Schweiz einführten. Frau Martullo-Blocher redet die Sozialpartnerschaft schlecht, weil die SVP die Personenfreizügigkeit kippen will. Das Entscheidende aus meiner Sicht an den flankierenden Massnahmen ist, dass in der Schweiz Schweizer Löhne bezahlt werden.

Haben die flankierenden Massnahmen Mängel?
In der Bauwirtschaft und im Gastgewerbe ist die Arbeitslosigkeit übermässig hoch. Das steht aber nicht in direktem Zusammenhang mit der Personenfreizügigkeit. Wir führen jetzt wie vom Parlament beschlossen schrittweise den Inländervorrang ein und gehen von einer positiven Wirkung bei den Berufsgruppen mit einer überdurchschnittlichen Arbeitslosigkeit aus.

Wenn mit der wachsenden Schweizer Wirtschaft wieder viel mehr Leute ins Land kommen als zuletzt, was sagen Sie dann der zuwanderungsskeptischen Bevölkerung?
Erstens zieht die Konjunktur in ganz Europa an, dadurch vermindert sich die Attraktivität für die Zuwanderung in die Schweiz. Zweitens muss man sich die Demografie anschauen. Viele Leute blenden diesen Faktor aus: In den kommenden zehn Jahren verlassen eine Million Menschen den Schweizer Arbeitsmarkt, weil sie pensioniert werden – und es stossen nur eine halbe Million nach. Der geburtenstärkste Jahrgang war 1964, damals gab es 120’000 Geburten. Dann sank die Zahl der Geburten auf 70’000 bis 80’000. Die Zahl der Inländer auf dem Arbeitsmarkt wird bald sinken. Wir werden immer auf eine gewisse Zuwanderung angewiesen sein. Die Wirtschaft hat das Signal vom 9. Februar 2014 verstanden, das die Schweizer Bevölkerung gesetzt hat. Es gilt, ein Gleichgewicht zu finden zwischen der Zuwanderung und der Gefahr der Abwanderung, wenn Firmen ihren Bedarf an Fachkräften in der Schweiz nicht mehr decken können.

Haben die Arbeitgeber zu viele Ausländer ins Land geholt?
In einzelnen Branchen war es wohl so, auf dem Bau, im Gastgewerbe. Das versuchen wir nun zu korrigieren.

Bedeutet der Inländervorrang nicht eine Aufblähung der Bürokratie?
Das ist immer noch besser als ein Kontingentsystem. Kontingente bedeuten noch mehr Bürokratie. Die Arbeitgeber sind bereit, ab Mitte Jahr den beschlossenen Inländervorrang konstruktiv gemeinsam mit den regionalen Arbeitsvermittlungszentren umzusetzen.

Finanzminister Ueli Maurer will, dass das Bundesparlament schnell die neue Reform der Unternehmenssteuern berät – und zwar in einer Weise, dass es danach nicht nochmals zu einem Referendum und einer Volksabstimmung kommt.
Da stimme ich Bundesrat Maurer zu. Die USA haben den Steuerwettbewerb gerade neu verschärft, nun müssen auch wir vorwärtsgehen. Wir müssen der Bevölkerung konkret aufzeigen können, was die Vorlage für die Steuersätze in den Kantonen und den Gemeinden bedeutet. An diesem Punkt ist die erste Steuervorlage gescheitert. Ich halte wenig vom Wunschkonzert der Gewerkschaften, das als Drohgebärde für ein Referendum aufgefahren wird, bevor klar ist, was das Parlament bis Herbst beschliessen wird.

Der Kanton Zürich ist nicht zufrieden damit, dass die zinsbereinigte Gewinnsteuer nicht mehr in der Vorlage enthalten ist.
Das kann ich nachvollziehen. Im Parlament kann man das hoffentlich noch korrigieren. Ich finde, man sollte den Kantonen generell eine grössere Freiheit bei der Einführung von zusätzlichen steuerlichen Instrumenten geben.

Stimmen Sie der Erhöhung der Kinderzulagen zu, wie der Bundesrat sie vorsieht?
Nein. Das ist ein artfremdes Zückerchen in der Vorlage. Auch hier sollte das Parlament entsprechende Korrekturen vornehmen.

Lässt sich eine Abstimmung über die Steuerreform gewinnen, wenn man kein Anliegen der Linken aufnimmt?
Davon gehe ich aus. Die Abstimmung über die Rentenreform haben wir ja auch gegen die Linken gewonnen. Mit der Steuersenkung in den USA hat sich die Ausgangslage bei den Unternehmenssteuern nochmals deutlich verschärft. Die Schweizer sägen normalerweise nicht am wirtschaftlichen Ast, auf dem sie sitzen.

Warum wächst die Distanz zwischen den Wirtschaftsverbänden und der SVP?
Die Distanz wächst nicht. Wir arbeiten in vielen Gebieten sehr gut zusammen, zum Beispiel bei den Steuern und der Altersvorsorge. Wir haben aber bei der Frage der Zuwanderung eine klar andere Meinung als die SVP. Für die SVP ist die Zuwanderung das zentrale Wahlthema. Von diesem Credo scheint sie auch für die Wahlen von 2019 nicht abzuweichen.

Das Interview mit Valentin Vogt ist in der NZZ am Sonntag erschienen.