«Die Zustimmung zu höherem Rentenalter wird steigen»

8. März 2019 Medienbeiträge

Politikverdrossenheit, Fachkräftemangel und die Sozialwerke: Der Präsident des Schweizerischen Arbeitgeberverbandes skizziert Lösungsvorschläge zu den Herausforderungen der Wirtschaft.

Immer weniger Unternehmer sitzen in den Parlamenten, kaum ein Unternehmer äussert sich öffentlich zu politischen Vorlagen. Weshalb sind die Unternehmer so politkverdrossen?
Diese Frage treibt auch uns um. Die Struktur und die Internationalität der Schweizer Wirtschaft haben sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert. Wir haben heute viele grosse und internationale Firmen in der Schweiz, die teilweise auch Chefs aus andern Ländern haben. Diese haben einen weniger direkten Bezug zur Schweizer Politik oder äussern sich aus Höflichkeit nicht dazu, was wir bedauern. Anderseits sind viele Chefs oft im Ausland unterwegs. Für sie ist es schwierig, Zeit für die Allgemeinheit aufzubringen.

Wie überzeugen Sie die Wirtschaftsführer davon, sich politisch zu äussern?
Ich suche das Gespräch mit den Firmenchefs und versuche zu sensibilisieren, dass viele politische Entscheide auch die Rahmenbedingungen unserer Wirtschaft stark beeinflussen. Manche Firmenchefs nehmen durchaus Stellung, allerdings im Hintergrund respektive innerhalb ihres Unternehmens, indem sie ein Mail an die Mitarbeitenden verschicken oder einen internen Aushang machen. Wichtig ist bei solchen Äusserungen immer, dass die Tonalität und die Kultur der Firma getroffen werden.

Sie fordern, dass Mütter in Teilzeitarbeit ihr Pensum erhöhen. Sollen die Frauen damit das Problem des Fachkräftemangels lösen?
Uns werden in Zukunft wegen der demografischen Entwicklung rund eine halbe Million Fachkräfte fehlen. Mit höheren Pensen der Mütter alleine wird der Fachkräftemangel nicht gelöst, aber es ist eines der Potenziale, um den Fachkräftemangel zu lindern. Die höheren Pensen tragen auch zur Lohngleichheit von Frauen und Männern bei, denn es ist nicht wegzudiskutieren, dass die Entwicklungs- und Karrierechancen bei einem 40-Prozent-Pensum kleiner sind als bei 80 Prozent. Für eine verbesserte Lohngleichheit müssen Frauen aber nicht nur in höhere Positionen kommen, sondern generell auch in die Berufe, in denen höhere Löhne bezahlt werden. Dies ist ein langfristiger Prozess. Mädchen müssen erkennen, dass ihnen auch die traditionellen Männerberufe offenstehen. In einigen Branchen sieht man gute Entwicklungen, etwa bei den Malern oder Elektroinstallateuren, wo der Frauenanteil deutlich gestiegen ist.

Höhere Arbeitspensen der Mütter bedeuten aber auch, dass es mehr Betreuungsplätze für die Kinder braucht. Wer soll das bezahlen?
Es braucht vor allem Tagesstrukturen in den Schulen – wobei es kein Zwang sein soll, die Kinder in Tagesschulen zu bringen; aber es sollte für Eltern, die das wollen oder müssen, möglich sein. Diese Strukturen zu schaffen, ist eine staatliche Aufgabe und soll hauptsächlich vom Staat finanziert werden. Zudem sollten Eltern einen höheren Anteil der Betreuungskosten von den Steuern abziehen können. Deswegen werden die Steuern nicht sinken, denn die Frauen können mehr arbeiten, verdienen auch mehr und zahlen mehr Steuern. Für die Gemeinden sind Tagesstrukturen ein Standortvorteil, mit dem sie auch mehr neue Einwohner anziehen.

Das Problem des Fachkräftemangels lösen die arbeitenden Mütter alleine nicht, sagen Sie. Wo sehen Sie weitere Lösungspotenziale?
In der Schweiz gibt es rund 50’000 Jugendliche zwischen 15 und 24 Jahren, die erwerbslos sind. Davon sind 13’000 bei den RAVs gemeldet. Das Potenzial bei den älteren Mitarbeitenden ist auch nicht ausgeschöpft. Rund ein Drittel der älteren Mitarbeitenden scheidet vor dem ordentlichen Pensionierungsalter aus dem Arbeitsmarkt aus. Ausserdem haben wir noch Potenzial für die Eingliederung von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt.

Die Digitalisierung vernichte Arbeitsplätze – davor fürchten sich einige. Würde dieses Szenario den Fachkräftemangel entschärfen?
Im Gegenteil. Trotz der Digitalisierung sind in den vergangenen zehn Jahren rund eine halbe Million zusätzliche Arbeitsplätze in der Schweiz geschaffen worden, und wir gehen davon aus, dass es in den nächsten zehn Jahren weitere 200’000 Arbeitsstellen sein werden. Die meisten Schweizer Unternehmen sind meines Erachtens für die Digitalisierung gut gerüstet und müssen digitaler werden, auch um wettbewerbsfähig zu bleiben. Der Staat ist gefordert, die entsprechenden Rahmenbedingungen zu schaffen. Insgesamt sind für unser Land die Chancen der Digitalisierung grösser als die Risiken.

Die Zukunft der Sozialwerke wollen Sie mit höherem Rentenalter sichern. Ist dies sinnvoll, wenn es für über 50-Jährige besonders schwierig ist, eine Stelle zu finden?
Die Arbeitslosenquote der über 50-Jährigen ist kleiner als gemeinhin angenommen. Nur gut zwei Prozent der Arbeitnehmenden verlieren in diesem Alter den Job, davon finden drei Viertel innerhalb von zwei Jahren wieder eine Stelle. Als das Rentenalter der Frauen um ein Jahr erhöht wurde, hatte das keine Auswirkung auf die Arbeitslosigkeit. Das effektive Rentenalter der Frauen ist über die Jahre um ein Jahr angestiegen. Politisch wäre es meiner Meinung nach heute mehrheitsfähig, das Rentenalter der Frauen auf 65 Jahre zu erhöhen. Spätestens wenn die Defizite der AHV immer höher werden, wird die Zustimmung zur Erhöhung des Rentenalters steigen.

Wie überzeugen Sie Unternehmer, vermehrt ältere Mitarbeitende einzustellen?
Ich helfe als Mentor persönlich regelmässig älteren Menschen, eine neue Stelle zu finden. Es gelingt in den meisten Fällen, dass die Person eine Stelle findet. Es braucht eine Änderung der Einstellung, dass man bis zur Rente Vollzeit arbeitet. Es wäre sinnvoller, langsam das Arbeitspensum zu verringern und dafür über das ordentliche Rentenalter hinaus zu arbeiten. Ebenso veraltet ist die Ansicht, dass man mit zunehmendem Alter stetig mehr verdienen muss. Diese Anspruchshaltung schreckt viele Unternehmer vor einer Anstellung von älteren Personen ab. Wenn der Lohn nicht mehr so hoch sein muss, fallen auch die prozentual höheren Abgaben für die Pensionskasse weniger ins Gewicht. Zu überdenken wäre ausserdem eine Systemänderung im BVG: Würden die Altersabstufungen bei den Beiträgen zwischen 7 und 18 Prozent geglättet und alle würden zum Beispiel 12,5 Prozent des Lohnes während ihres ganzen Erwerbslebens in die Pensionskasse einzahlen, würde das die Lohnkosten von älteren Arbeitnehmenden zusätzlich weniger belasten.

Die ehrenamtlich erbrachte Arbeit in der Schweiz ist nicht unerheblich. Würde die Freiwilligenarbeit bezahlt, erhöhte dies auch die Beiträge für die AHV.
Dass in der Schweiz viele Aufgaben im Milizsystem erbracht werden, ist eine unserer Stärken. Es ist Ausdruck unserer Kultur und inneren Haltung, dass nicht jede Tätigkeit Geld einbringen muss. Das bringt uns wirtschaftlich, aber auch menschlich weiter. Ein weiterer grosser Vorteil von unbezahlter Arbeit ist die Unabhängigkeit: Ich werde für mein Amt als Präsident des Arbeitgeberverbandes nicht bezahlt, kann aber dafür auch frei meine Meinung äussern.

Das Interview von Charlotte Pauk mit Valentin Vogt erschien am 8. März 2019 im KMU-Magazin der AXA.