Fachkräftemangel – die Politik ist gefordert

29. Dezember 2021 Meinungen Medienbeiträge
Von Simon Wey

Um dem Mangel an Fachkräften rasch entgegenzutreten, muss eine Liberalisierung der zu restriktiven Zulassungskriterien für Drittstaatenangehörige ins Auge gefasst werden.

Der Ruf nach Fachkräften ist in der Wirtschaft ein weiteres Mal gross. Zu Unrecht? Wohl eher nicht, wie die arbeitsmarktlichen Entwicklungen zeigen. Den Aufschrei als Gejammer der Betriebe abzutun, wie es die NZZ in einem jüngst veröffentlichten Kommentar tat (10.11.21), greift indes zu kurz und verkennt die Wichtigkeit dieser Debatte.

Der sich akzentuierende Engpass bei den Arbeitskräften ist das Ergebnis von Entwicklungen, die sich im Ergebnis kumulieren und den Mangel an Arbeitskräften verschärfen. Zum einen führt die fortschreitende Alterung der Bevölkerung dazu, dass mehr Erwerbstätige altersbedingt aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden, als Jüngere nachrücken.

Zum anderen stagniert die Nettozuwanderung aus EU/Efta-Ländern in den letzten fünf Jahren und liegt bei durchschnittlich etwa 30’000 Personen. Auch dieses Jahr ist sie bis anhin trotz starkem wirtschaftlichem Aufschwung tiefer als vor einem Jahr. Dies hat mehrere Gründe. So verlassen potenzielle Zuwanderer ihre Heimat kaum, wenn die Wirtschaft in ihren Ländern floriert und sie dort ebenfalls attraktive Stellenangebote vorfinden. Ebenso ist die zuwanderungskritische Haltung von Teilen der Politik und der Bevölkerung in der Schweiz der Attraktivität als Zuwanderungsland nicht wirklich förderlich.

Während sich also das Arbeitskräfteangebot tendenziell rückläufig entwickelt, nimmt die Nachfrage nach Arbeitskräften fortlaufend zu. So wurde in den letzten zehn Jahren fast eine halbe Million Stellen neu geschaffen, und Prognosen gehen bis 2030 von einem weiteren Wachstum von gegen 200’000 Stellen aus.

Eine jüngst in diesem Zusammenhang publizierte Studie geht bis 2050 allein für den Kanton Zürich von einer Arbeitskräftelücke von rund 210’000 Personen aus. Bisher ebenfalls wenig zu einer tieferen Arbeitskräftenachfrage trugen die Automatisierung und die Digitalisierung bei. Viel stärker als die Quantität werden dadurch zudem die Qualifikationsansprüche an die Stellenbewerber verändert.

Der Aufschrei der Betriebe muss für die Politik ein Weckruf sein, dringend notwendige Massnahmen rasch in die Wege zu leiten.

Die Konjunkturforschungsstelle der ETH (KOF) analysiert mit Fragebögen an Unternehmen ausgewählter Branchen deren konjunkturelle und arbeitsmarktliche Befindlichkeiten. Eine Frage erfasst dabei auch den Mangel an Arbeitskräften als Hemmnis bei der Produktion und der Erbringung von Dienstleistungen in Industrie- und Dienstleistungsbetrieben. Nicht weiter überraschend nahm dabei der Ruf nach fehlenden Fachkräften im Verlaufe der Corona-Pandemie stark ab.

Seit jedoch die Corona-Schutzmassnahmen zu Beginn dieses Jahres gelockert wurden und die Wirtschaft wieder brummt, harzt die Besetzung von Stellen mit Fachkräften in vielen Betrieben bereits wieder. Dies zeigt sich deutlich am obenerwähnten Indikator der KOF: Seit Beginn des Jahres hat er für praktisch alle Branchen wieder stark zugelegt. Auffällig ist der starke Anstieg im Gastgewerbe. Auch in anderen Branchen hat sich die Arbeitskräftesituation wieder verschärft. Am virulentesten ist das Thema in der Informations- und Kommunikationsbranche, im Gesundheitswesen und im Baugewerbe.

In erster Linie sind Rahmenbedingungen zu schaffen, die dem grossen Potenzial von inländischen Arbeitnehmenden den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern. Laut dem Bundesamt für Statistik (BfS) aggregiert sich das zusätzlich gewünschte Arbeitsvolumen von Unterbeschäftigten und Erwerbslosen zu einem Potenzial von insgesamt beinahe 300’000 Vollzeitstellen auf, wobei das grösste Potenzial bei Frauen und älteren Männern liegt. Die darin inbegriffenen Unterbeschäftigten sind meist bereits aktive Arbeitskräfte. Diese könnten rasch und effizient in einem höheren Pensum eingesetzt werden.

Beim Schweizerischen Arbeitgeberverband steht die Ausschöpfung des inländischen Arbeitskräftepotenzials weit oben auf der Prioritätenliste. Dabei bringt er sich insbesondere bei den Themen der Vereinbarkeit von Familie und Beruf und der verstärkten Einbindung von älteren Personen in den Arbeitsmarkt an vorderster Front bei der Erarbeitung von nachhaltigen Lösungen ein. Um dem Mangel an Fachkräften kurzfristig entgegenzutreten, muss eine Liberalisierung der zu restriktiven Zulassungskriterien für Drittstaatenangehörige ins Auge gefasst werden.

Der Ruf der Betriebe nach zusätzlichen Fachkräften ist somit kaum bloss ein «Gejammer». Vielmehr sind wirtschaftliche und politische Entwicklungen im Gange, die sich kumulieren und in der Summe den Mangel an Fachkräften akzentuieren. Der Aufschrei der Betriebe muss für die Politik ein Weckruf sein, dringend notwendige Massnahmen rasch in die Wege zu leiten. Denn ohne gesetzliche Anpassungen bleiben wirksame und nachhaltige Veränderungen Wunschdenken. Und, soll die Schweiz für Unternehmen attraktiv bleiben, muss ein unbürokratischer Zugang zu Fachkräften gewährleistet sein.

Der Kommentar von Simon Wey ist in der «NZZ» erschienen.