Wo bleibt der Sinn für die Realität?

6. Januar 2016 Meinungen

War das ein Neujahrsscherz, den sich der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) am zweiten Arbeitstag des neuen Jahres geleistet hat? Es war wohl nicht so gedacht, immerhin handelte es sich um seine Jahresmedienkonferenz. Wenn die Gewerkschaftsvertreter aus diesem Anlass mit vollem Ernst «rekordhohe Erwerbslosigkeit» und «Leistungsverschlechterungen bei den Sozialversicherungen» beklagen, muss die Frage erlaubt sein, ob ihnen über den Jahreswechsel der Sinn für die Realität abhandengekommen ist.

Zunächst einmal ist es doch reichlich übertrieben, bei zwischen drei und vier Prozent Arbeitslosigkeit von Rekorden zu sprechen. Noch nicht so lange ist es her, da hatten wir hierzulande deutlich höhere Werte. Und gegenüber manchen anderen europäischen Ländern mit hoch zweistelligen Arbeitslosenquoten ist die Feststellung des SGB ein Hohn. Auch muss auf einem Auge blind sein, wer unverhohlen über Leistungsverschlechterungen im Bereich der sozialen Sicherheit jammert, ohne gleichzeitig die Leistungsverbesserungen der jüngeren Vergangenheit anzuerkennen – etwa die Einführung der Mutterschaftsversicherung oder den immer noch laufenden Aufbau des Obligatoriums in der beruflichen Vorsorge.

Der von den Gewerkschaften weiter propagierte Zusammenhang von Leistungsverschlechterungen in den Sozialversicherungen einerseits und der Arbeitslosigkeit andererseits ist spekulativer Natur. Die Reformen in den Sozialversicherungen werden regelmässig im Auftrag des Bundes evaluiert. Die Ergebnisse belegen eindeutig, dass etwa die Erhöhung des Frauenrentenalters in der AHV auf 64 Jahre praktisch zu 100 Prozent auf dem Arbeitsmarkt umgesetzt wurde, die betroffenen Frauen also nicht arbeitslos wurden. Ebenfalls in keinerlei Hinsicht bestätigen lässt sich die These, dass IV-Rentner aufgrund einer restriktiveren Rentenpraxis ihren Anspruch verlören und in der Folge beispielsweise in der Sozialhilfe landeten. Im Gegenteil, der Grundsatz «Arbeit vor Rente» wird immer mehr zur Realität: Immer häufiger gelingt es, Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen im Arbeitsprozess zu halten oder wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren.

 

Die Sozialversicherungen sind keine unerschöpfliche Geldquelle.

Der Schweizerische Gewerkschaftsbund malt hingegen das Bild einer arbeitsscheuen Gesellschaft. Es scheint erstrebenswert zu sein, früh in Pension zu gehen, mehr Rentengeld zu beziehen – Hauptsache, nicht mehr arbeiten als nötig. Dabei irrt er in doppelter Hinsicht: Erstens geniesst Arbeit in unserem Land einen hohen Stellenwert und bedeutet auch Anerkennung und Wertschätzung. Dies zeigt die hohe Erwerbsbeteiligung ebenso wie die Tatsache, dass ein Drittel der Bevölkerung nach dem 65. Altersjahr aus freien Stücken noch aktiv ist. Zweitens verschliesst der SGB die Augen vor den demografischen Sachzwängen. Wir leben nun einmal nicht im Schlaraffenland, sondern in einer alternden Gesellschaft mit immer weniger Beitragszahlern und immer mehr Leistungsbezügern. Mit anderen Worten: Die Sozialversicherungen sind keine unerschöpfliche Geldquelle. Statt diese Quelle in unverantwortlicher Weise zu plündern – zum Beispiel mit 10 Prozent höheren AHV-Renten à la «AHVplus» –, ist sie nachhaltig zu sichern. Ansonsten versiegt sie schneller, als uns allen lieb sein kann.