Rentenreform oder «AHVplus»-Zwängerei?

27. April 2017 Meinungen

Am 24. September 2017 werden die Schweizer Stimmbürger zum zweiten Mal in kurzer Folge zu einem Ausbau der AHV an die Urne gerufen. Fast auf den Tag genau haben sie sich ein Jahr zuvor deutlich gegen die Initiative «AHVplus» ausgesprochen, die eine Erhöhung der AHV-Renten um 10 Prozent vorsah. In diesem Jahr erfolgt nun der abermalige Ausbauversuch unter der Etikette «Reform Altersvorsorge 2020». Der Giesskannen-Charakter des Ausbaus bleibt dabei derselbe wie bei «AHVplus». So sollen alle Neurentner monatlich 70 Franken aus der chronisch defizitären AHV-Kasse erhalten, ungeachtet ihrer finanziellen Situation.

Die Erhöhung der AHV-Renten um 70 Franken – die im Sinne der Erfinder Teil der Kompensation für die Senkung des Mindestumwandlungssatzes in der obligatorischen beruflichen Vorsorge sein sollten – wird von Vielen bezahlt, aber nur wenige profitieren effektiv davon. Mit Solidarität hat das herzlich wenig am Hut, zumal auch all jene Personen den Zustupf erhalten, die nicht von der Senkung des Mindestumwandlungssatzes betroffen sind. Das sind immerhin 6 von 7 der in der beruflichen Vorsorge Versicherten. Die sogenannte Übergangsgeneration zwischen 45 und 65 wird zudem bereits vollständig über Beiträge des Sicherheitsfonds für die Senkung des Mindestumwandlungssatzes kompensiert. Sie muss also keine Renteneinbussen hinnehmen. Dennoch kommt diese Generation in den Genuss des AHV-Zustupfs.

Leer gehen demgegenüber die ärmsten Neurentner aus. Sie erhalten zwar die 70 Franken, aber im Gegenzug werden ihnen die Ergänzungsleistungen (EL) um denselben Betrag gekürzt. Da die EL im Gegensatz zur AHV-Rente steuerbefreit sind, haben ausgerechnet sie, die jeden Franken zweimal umdrehen müssen, Ende Monat noch weniger Geld im Portemonnaie. Das Nachsehen haben auch gegenwärtige Rentner, die keine Rentenerhöhung erhalten und – anders als die erwerbstätige Übergangsgeneration – kein weiteres Alterskapital ansparen können. Zudem tragen sie den AHV-Ausbau über die Erhöhung der Mehrwertsteuer finanziell mit. Am härtesten trifft es die Jungen: Sie schultern zusätzlich zum Mehrwertsteueraufschlag höhere Lohnabzüge und müssen dereinst für den ungedeckten Check des Ausbaus geradestehen.

Nebst dem schädlichen AHV-Ausbau umfasst die Reformvorlage im Gegensatz zu «AHVplus» jedoch auch wichtige und richtige Massnahmen, darunter die Angleichung des Frauenrentenalters auf 65. Diese Anpassung ist weitgehend unbestritten und nötig, um das strukturelle Defizit der AHV wegen der demografischen Alterung zu mildern. Denn angesichts der steigenden Lebenserwartung und der Pensionierungswelle der Generation der «Babyboomer» reichen die AHV-Beiträge der Erwerbstätigen nicht mehr aus, um die zunehmende Anzahl Rentner zu finanzieren.

Deshalb stiess der Bundesrat zu Recht die Reform an mit dem Ziel, das heutige Rentenniveau zu sichern und gleichzeitig die finanzielle Gesundheit der ersten beiden Säulen zu garantieren. Der AHV-Ausbau steht dem aber nicht nur im Weg, sondern wirkt wie ein Brandbeschleuniger: Statt das strukturelle Problem zu lösen, verschärft er es zusätzlich. Bereits im Jahr 2030 übersteigen die Kosten des Ausbaus die Entlastung, welche die Erhöhung des Frauenrentenalters der AHV bringt. Somit hat das Parlament die Zielsetzung der finanziellen Stabilisierung kurzerhand zum Leidwesen der AHV umgedeutet.

Der zusätzliche Kostenanstieg ist zum einen auf die demografische Entwicklung zurückzuführen, da künftig immer mehr Rentner die monatlich 70 Franken erhalten würden, und zum anderen auf die krasse Unterfinanzierung des Ausbaus. Trotz 0,6 Prozent Mehrwertsteuer, 0,3 Prozent Lohnbeiträge und der Erhöhung des Frauenrentenalters würde die AHV 2027 bereits erneut rote Zahlen schreiben. 2030 würde das Defizit schon wieder 3 Milliarden Franken betragen, 2035 gar 7 Milliarden pro Jahr. Um dieses Loch zu stopfen, müssten entweder das Rentenalter auf über 67 Jahre, die Lohnbeiträge um weitere knapp 1,5 Prozentpunkte oder die Mehrwertsteuer um fast 2 Prozentpunkte erhöht werden.

 

Das süsse Versprechen des AHV-Ausbaus entpuppt sich wegen seiner Unterfinanzierung für die Zukunft als ungedeckter Check.

Das süsse Versprechen des AHV-Ausbaus entpuppt sich wegen seiner Unterfinanzierung für die Zukunft als ungedeckter Check – gerade für die Jungen. Zudem wirkt der Ausbau wie ein Bumerang, der die Dringlichkeit zu raschen weiteren und noch einschneidenderen Sanierungsmassnahmen erhöht. Ein Nein bei der Abstimmung vom 24. September 2017 ist somit nicht die teuerste Option, wie dies die Befürworter behaupten. Am teuersten ist vielmehr ein Ja zu einer Vorlage, die vorgibt, eine Reform zu sein, tatsächlich aber einen Ausbau forciert, ohne seine Finanzierung nachhaltig zu regeln.

Sprechen sich die Schweizer Stimmbürger im Herbst erneut gegen einen AHV-Ausbau mit der Giesskanne aus, machen sie den Weg frei für eine echte Reform, mit der die Altersvorsorge nachhaltig gesichert werden kann. Denn ein Ausbau wäre dann definitiv vom Tisch. Auf diesem liegen dann nur noch die zentralen und praktisch unbestrittenen Massnahmen: Die Angleichung des Frauenrentenalters, eine moderate Zusatzfinanzierung für die AHV und die Senkung des Mindestumwandlungssatzes mit sozialverträglicher Kompensation. All dies lässt sich rasch in verdaubaren Portionen umsetzen – ohne kompliziertes Reformpaket, das die unterschiedlichen Systeme der ersten beiden Säulen unnötig vermischt. Zieht die Politik die richtigen Schlüsse aus einem solchen Plebiszit, könnten die Massnahmen bereits 2020 oder 2021 erfolgreich ihre Wirkung entfalten – im  Interesse sicherer Renten auf heutigem Niveau trotz der gewaltigen demografischen Herausforderung.