Mehr Rente oder eine stabile Altersvorsorge für die Zukunft?

9. September 2016 Medienbeiträge

Im grossen NZZ-Streitgespräch diskutieren Paul Rechsteiner, Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds, und Roland A. Müller, Direktor des Schweizerischen Arbeitgeberverbands über die Altersvorsorge. Die Pensionäre seien auf 10 Prozent höhere Renten angewiesen, wie die AHVplus-Initiative sie verlangt, sagt Rechsteiner. Diese gefährde den Generationenvertrag und unterstütze auch solche, die es gar nicht nötig hätten, erklärt Müller.

Herr Rechsteiner, Sie haben gerade Ihren 64. Geburtstag gefeiert. Und Sie, Herr Müller, sind 53 Jahre alt. Wie stellen Sie sich Ihren Altersrücktritt vor?
Rechsteiner: Bei mir ist alles offen. Aber bei dieser Abstimmung geht es ja nicht um mich, sondern um die Interessen der Bevölkerung, um die grosse Mehrheit mit unteren und mittleren Einkommen. Müller: Ich arbeite voraussichtlich bis 65 und ziehe mich dann schrittweise zurück. Auf jeden Fall werde ich noch etwas tun und richte meine Zukunft nicht stur auf Rentenalter 65 aus.

Sieht das in Ihrem Umfeld ähnlich aus?
Rechsteiner: Ich bin seit Jahren immer öfter konfrontiert mit Angestellten ab 50, die aus heiterem Himmel entlassen werden, auch nach Jahrzehnten im Betrieb. Offenbar gilt das Kündigungstabu für ältere Angestellte nicht mehr. Das ist eine soziale Katastrophe, die man politisch sehr ernst nehmen muss. Müller: Heute gibt es alle Varianten von Altersrückzug. Nur noch ein Drittel aller Erwerbstätigen hört mit 65 auf, rund ein Drittel gibt die Erwerbsarbeit früher auf, und rund ein Drittel bleibt weiter arbeitstätig. Tatsächlich werden auch ältere Mitarbeitende entlassen. Doch ist dieser Anteil tiefer als bei jüngeren. Richtig ist: Wird eine ältere Person arbeitslos, dann hat sie ein höheres Risiko, langzeitarbeitslos zu werden. In diesem Punkt lohnt es sich zu überlegen, wie dieses Risiko gezielt reduziert werden kann. Um ein Massenphänomen handelt es sich dabei aber definitiv nicht. Rechsteiner: Ab 50 Jahren herrscht an manchen Orten ein Angstklima, noch stärker ab 55. Das hat gravierende Folgen. Eine Altersvorsorgereform muss Rücksicht nehmen auf diese sozialen Realitäten. Müller: Reine Angstmacherei. Gezielte Aktionen gegen ältere Mitarbeiter gibt es nicht, und die Arbeitslosigkeit unter den Älteren ist unterdurchschnittlich.

Die AHV gibt es seit dem Jahr 1948, die berufliche Vorsorge seit 1972. Wie gut oder schlecht geht es der Mehrheit der Rentner tatsächlich?
Rechsteiner: Die künftigen Pensionskassenrenten sind fast im freien Fall. Viele Leute erleben Reduktionen von 10 bis 20 oder gar 30 Prozent. Es braucht einen Ausgleich. Dieser kann effizient und kostengünstig nur über höhere AHV-Renten erreicht werden. Da setzt unsere Initiative an. Müller: Sie bringen gern alles in eine Dramatik. Unser Rentensystem hat Probleme aufgrund der demografischen Entwicklung, in der ersten und der zweiten Säule. Auch die Arbeitgeber wollen die Renten sichern. Aber es geht eben um die Sicherung des gesamten Rentensystems. Ihre Initiative bricht einen Mosaikstein heraus und gewichtet die AHV-Renten überproportional. Dies gefährdet das ganze Reformpaket. Rechsteiner: Das ist falsch. Bei der Reform wollen die Arbeitgeber zusammen mit FDP und SVP eine massive Verschlechterung der künftigen Renten. Der Abbau bei der beruflichen Vorsorge soll nicht via AHV kompensiert werden. Das ist aber zwingend. Müller: Das Rentensystem muss reformiert werden, aber bezogen auf die einzelnen Säulen. Bei der AHV ist die Wirtschaft bereit, die Mehrwertsteuer zu erhöhen, um die demografische Entwicklung aufzufangen. Wir sind aber dagegen, dass man Abstriche bei der zweiten Säule in der ersten Säule kompensiert. Die Renten der zweiten Säule werden mit Massnahmen innerhalb der zweiten Säule gesichert, eine Vermischung lehnen wir ab. Rechsteiner: Die Leute müssen von den Renten der AHV und der Pensionskasse zusammen anständig leben können. Weil der Beitragsfranken an die AHV bessere Renten produziert als in der beruflichen Vorsorge, muss man ihn in die AHV investieren. Bei Einzelpersonen bis 150‘000 Franken Einkommen und bei Ehepaaren bis 250‘000 Franken hat die AHV ein unschlagbares Preis-Leistungs-Verhältnis. Müller: Der alte Streit. Die Gewerkschaften wollen immer die AHV ausbauen, weil sie ein Umverteilungsinstrument ist. Gutverdienende zahlen viel mehr ein, als sie bekommen. In der Reform müssen wir die Systeme austarieren. Es gibt keinen Grund, die Gewichte der einzelnen Säulen zu verschieben.

Hilft «AHV plus» den Menschen, die es am nötigsten haben?
Müller: Mit der Initiative würden 15‘000 Empfänger von Ergänzungsleistungen (EL) weniger Geld erhalten. 140‘000 EL-Bezüger hätten keinen Vorteil. Wie kann man unter dem Titel «AHV stärken» eine Initiative bringen, die dafür sorgt, dass gerade diese Leute weniger Geld erhalten als heute? Rechsteiner: Es rührt mich zu Tränen, wenn der Arbeitgeberverband plötzlich ein Herz für Menschen hat, die auf Ergänzungsleistungen angewiesen sind. Müller: Das ist aber wirklich ein Schwachpunkt der Initiative. Rechsteiner: In Wahrheit ist das zynisch. Die Ergänzungsleistungen sind massiv unter Beschuss von Kantonen und bürgerlichen Parteien. Die Initiative strebt Verbesserungen für die grosse Mehrheit an, die von AHV und Pensionskasse lebt. Wir verteidigen die EL. Aber es ist gut, wenn weniger Leute EL brauchen. Es ist eine Lüge, dass es einem Teil der EL-Empfänger schlechter gehen wird. In diesem Punkt ist auch das Bundesbüchlein falsch. Bei jeder AHV-Verbesserung hat man bisher eine Besitzstandsklausel gemacht für jene, die aus der EL fallen. Das muss man auch diesmal tun.

Mit «AHV plus» würden aber auch Leute höhere Renten erhalten, die sie nicht brauchen.
Rechsteiner: Die AHV ist kein Bedarfssystem, sondern eine Sozialversicherung für alle. Das nützt der ganzen Bevölkerung und vor allem den unteren und mittleren Einkommen. Die AHV beruht darauf, dass alle zahlen und alle bekommen. Das Erfolgsrezept ist, dass die Beitragspflicht gegen oben unbeschränkt ist, die Renten jedoch plafoniert sind. So nimmt die AHV die ganze wirtschaftliche Entwicklung mit und kann auch die höhere Lebenserwartung finanzieren. Die AHV ist eben eine Volksversicherung: Die Reichen brauchen die AHV nicht, aber die AHV braucht die Reichen. Müller: Die AHV ist ein Sozialwerk, dazu stehen alle. Es ist richtig, dass sie in Abhängigkeit des Einkommens finanziert wird und zusätzliche Steuerfranken erhält. Wenn aber die Mittel knapp sind, muss man sie gerecht verteilen. Da ergibt es keinen Sinn, mit der Giesskanne die Renten um zehn Prozent zu erhöhen, auch bei denen, die es nicht nötig haben. Rechsteiner: Die AHV-Renten hinken generell den Löhnen hinterher. Auch die Lebenshaltungskosten sind gestiegen, die Krankenkassenprämien. Es gibt bei der AHV einen Rentenrückstand von zehn Prozent, der ausgeglichen werden muss. Müller: Sie brechen wieder ein Element heraus und verfälschen das Bild. Die Mietkosten etwa sind gesunken. In der AHV haben wir den Mischindex, der die Lohnentwicklung und die Teuerung mitmacht und damit die Rentenentwicklung gewährleistet. Über die letzten sechs Jahre war die Teuerung negativ, und entsprechend wurden die Renten nicht erhöht. Wir sollten nicht aus einer momentanen Situation heraus das System kehren.

Übers Ganze gesehen geht es der Rentnergeneration nicht schlecht. Weshalb dann eine Rentenerhöhung für alle?
Rechsteiner: Das Geniale an der AHV ist, dass sie alle mitnimmt, bei der Leistung wie bei der Beitragspflicht. Sie ist sehr effizient: keine höheren Beiträge seit 40 Jahren, mehr als doppelt so viele Rentner, nur einmal ein Mehrwertsteuerprozent mehr. Viele Rentnerinnen und Rentner leiden unter den steigenden Gesundheitskosten. Weil die Initiative ja auch die künftigen Renten erhöhen will, liegt sie auch im Interesse der Jüngeren. Müller: Die Gewerkschaften wollten ursprünglich eine nationale Erbschaftssteuer für die AHV. Diese wurde abgelehnt. Jetzt würde die Initiative voll auf die Lohnbeiträge durchschlagen. Je 0,4 Prozent für Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu Beginn und schon in ein paar Jahren wesentlich mehr – damit strapazieren Sie die Jungen derart, dass der Generationenvertrag infrage steht. Wir wollen die demografische Entwicklung in der ersten Säule über die Mehrwertsteuer auffangen. Aber es geht nicht, Luxusentwicklungen für die Rentner über zusätzliche Lohnprozente zu ermöglichen. Rechsteiner: Es ist schon speziell, wenn ergraute Herren der Banken und Versicherungen sich als Protagonisten der jungen Generation in Pose werfen. Effektiv ist die AHV das Herz des Sozialstaates, das einen sozialen Ausgleich und einen Ausgleich zwischen den Generationen schafft. Müller: 2030 wird es 47 Prozent mehr Rentner geben, aber nur 7 Prozent mehr Erwerbstätige. Wir lagern also massiv Lasten auf die jungen Erwerbstätigen um. Das ist unfair. Rechsteiner: Herr Müller ist ein kurioser Vertreter der jungen Generation. Gerade für die Jungen ist eine Stärkung der AHV wichtig. Bei der zweiten Säule zahlen sie immer mehr und haben trotzdem schlechtere Renten. Bei der AHV hingegen ergeben 0,4 zusätzliche Lohnprozente im Schnitt pro Jahr 4200 Franken mehr für Ehepaare und 2400 Franken mehr für Alleinstehende.

Die Schweiz als reiches Land könnte sich höhere Renten leisten. Sollen denn die Rentner nicht Anteil haben an der wirtschaftlichen Entwicklung?
Müller: Das Rentenniveau ist nicht zu tief, und wir sind nicht schief aufgestellt. 42 Prozent der Renten werden über die AHV finanziert, 32 über die zweite Säule, 26 Prozent über die dritte Säule. Es gibt keinen Grund, ein Element herauszubrechen und damit die ganze Reform zu gefährden. Rechsteiner: Wenn jemand die Reform gefährdet, dann die Arbeitgeber und die bürgerlichen Parteien. Sie wollen die Rentenhöhe nicht garantieren und die Verschlechterungen in der beruflichen Vorsorge nicht kompensieren, wie das der Ständerat will. Unter dem Strich bringt die AHV die Rentenleistung billiger. Die Arbeitgeber sollten anfangen zu rechnen. Müller: Der Ständerat hat mit den 70 Franken AHV-Erhöhung etwas Brandgefährliches getan, nämlich zwei Klassen in der AHV geschaffen, Neurentner und Altrentner. Man muss wegkommen von diesen einseitigen Veränderungen in einem Sozialwerk.

Die Prognosen zeichnen ein düsteres Bild für die AHV. Wie schlecht geht es ihr wirklich?
Rechsteiner: Die Rentnerzahl ist seit 1975 bei gleichbleibenden Lohnprozenten von 900‘000 auf mehr als zwei Millionen gestiegen, eine enorme Zunahme, die wir nie mehr haben werden. Für die Babyboomer braucht es eine Zusatzfinanzierung. Wenn man aber die IV-Mehrwertsteuerpromille auf die AHV überträgt, werden die Leute noch lange nichts spüren. Müller: Schon ohne die Initiative wird der AHV-Fonds von 44 Milliarden Franken bis 2025 um 10 Milliarden sinken und nur noch 34 Milliarden betragen. Es wird mehr ausbezahlt als eingenommen. Mit der Initiative wird er bis 2025 auf 0 absinken. Mit «AHV plus» ist der Bogen überspannt. Rechsteiner: In der Vergangenheit waren alle Prognosen falsch und zu pessimistisch. Die Arbeitgeber haben immer schwarzgemalt und den Leuten Angst gemacht. Das ist verantwortungslos gegenüber der wirklichen Aufgabe, nämlich eine anständige Rentenleistung für die Bevölkerung zu sichern. Müller: 7 Milliarden brauchen wir nur schon, um die AHV zu sichern. Sie wollen aber noch 5 Milliarden obendrauf buttern. Man kann nicht einen solchen Betrag – notabene pro Jahr – einfach so in ein Sozialwerk umlagern, also quasi die Kreditkarte der Jungen belasten. Wir wollen das System stabilisieren, für die Älteren, damit die Renten weiter fliessen, und für die Jungen, dass sie unter der heutigen Finanzierungslast künftig eine vernünftige Rente haben. Die Gewerkschaften wollen das System so umbauen, dass man die Rentenlast auf die erste Säule verschiebt.

Eine Erhöhung des Rentenalters würde das Vorsorgesystem sichern. Warum nicht diesen Schritt tun?
Rechsteiner: Chancenlos! Im Ständerat erhielt der Vorschlag, über Rentenalter 65 hinauszugehen, nicht eine Stimme. Rentenalter 67 ist nur ein taktisches Manöver, um Abbaudruck zu erzeugen. Die Reform bringt Flexibilisierungen beim Altersrücktritt, das ist mehrheitsfähig. Ein höheres Rentenalter wäre ein Sargnagel für die Reform. Müller: Weder die Arbeitgeber noch die Nationalratskommission wollen ab 1. Januar 2018 Rentenalter 67 ausrufen. Wir diskutieren über eine Stabilisierungsregel. Sie hätte zur Folge, dass das Rentenalter ab 2033 in Monatsschritten ansteigen würde, falls der AHV-Fonds weiter sinkt. 2036 würde das Rentenalter dadurch für beide Geschlechter auf 66 ansteigen. In 20 Jahren! Die Politik hat die Stabilisierungsregel in die Gesamtreform aufgenommen. Wir sagten immer, es kann eine zweite Vorlage sein, über die die Bevölkerung entscheiden kann. Rechsteiner: Da eiern Sie nun aber herum. Sagen Sie es doch einfach: Sie wollen Rentenalter 67. Müller: Legen Sie mir nicht falsche Aussagen in den Mund. Das Rentenalter darf nicht tabuisiert werden. Wir sind dafür, dass man über das Rentenalter mit der Stabilisierungsregel als separater Vorlage diskutiert. Doch wird es eben nicht auf Vorrat erhöht, sondern nur dann und nur um so viel, wie es wirklich nötig ist, um die Renten langfristig zu sichern.

Das Streitgespräch mit Roland A. Müller und Paul Rechsteiner ist in der NZZ erschienen.