«Es braucht eine Kultur der Offenheit gegenüber psychischen Problemen»

19. Mai 2017 5 Fragen an...

Psychische Erkrankungen verursachen viel menschliches Leid und haben oft auch hohe Kosten zur Folge – nicht zuletzt für die Arbeitgeber. Grund genug, dass diese das Thema nicht einfach unter den Teppich kehren, sondern in ihren Unternehmen proaktiv angehen, findet Daniel Göring, der selber an einer Erschöpfungsdepression litt. Er appelliert aber auch an die Eigenverantwortung der Betroffenen.

Was können Arbeitgeber wie Arbeitnehmer präventiv tun, um psychische Erkrankungen mit all ihren negativen Folgen zu verhindern?
Als Arbeitnehmer ist es zentral, die «Life-Balance» zu halten, sich also im Alltag bewusst Ausgleichsmöglichkeiten zur Arbeit zu schaffen. Regelmässiges Abschalten erlaubt es, die Batterien wieder aufzuladen und die Leistungsfähigkeit zu wahren. Im Zeitalter dauernder Erreichbarkeit erachte ich es als besonders wichtig, sich auch privat abzugrenzen und nicht ständig online zu sein. Denn ob für private oder berufliche Zwecke genutzt: Die heutigen Kommunikationsmöglichkeiten können zum Stressfaktor werden. Der Arbeitgeber seinerseits sollte sensibel sein für negative Veränderungen im Verhalten seiner Mitarbeitenden. Längere Präsenzzeiten ohne gestiegene Arbeitslast, sozialer Rückzug, vermehrter Zynismus oder gehäufte kürzere Absenzen sind typische Warnsignale. Darauf sollten Vorgesetzte die betreffende Person direkt ansprechen. Für Arbeitskollegen kann es – je nach Verhältnis zum Betroffenen – einfacher sein, solche Beobachtungen beim Vorgesetzten zu deponieren.

Das ist einfacher gesagt als getan. Manch einer dürfte vor der direkten Konfrontation zurückschrecken, etwa aus Angst, mit der Situation überfordert zu sein.
Ja, psychische Krankheiten sind nach wie vor stark tabuisiert und schambehaftet. Bei Grippesymptomen hat wohl niemand ein Problem, offen darüber zu reden, bei Anzeichen auf eine Depression jedoch schon. Die Frage nach der angemessenen Reaktion kann Vorgesetzte tatsächlich überfordern. Dann sollte fachliche Hilfe beigezogen werden, entweder eine geschulte Person aus der Personalabteilung oder eine externe Fachperson.

Wie kann ein offenerer Umgang mit psychischen Problemen am Arbeitsplatz gefördert werden?
Grundlegend ist das Bewusstsein, dass psychische Beeinträchtigungen wie eine Depression eine Krankheit sind und nicht einfach bedeuten, dass jemand sich nicht zusammenreissen kann. Dann braucht es eine offene Kultur im Unternehmen gegenüber dem Thema. Das Commitment dazu muss von ganz oben kommen: Es ist eine Managementaufgabe, psychische Probleme am Arbeitsplatz zu thematisieren und im Unternehmen für eine Kultur des Vertrauens zu sorgen, die es den Mitarbeitenden ermöglicht, offen und ehrlich zu kommunizieren. Dazu tragen auch Vorgesetzte bei, die dies selber vorleben und gegenüber ihren Mitarbeitenden dazu stehen, wenn ihnen einmal alles zu viel wird.

Sie engagieren sich als ehemaliger Betroffener in der Sensibilisierung für Themen wie Burnout, Erschöpfung und psychische Gesundheit in Unternehmen. Sind die Arbeitgeber in Ihrer Erfahrung bereit, das Thema so proaktiv anzugehen?
Die Bereitschaft ist sehr unterschiedlich: Es gibt Unternehmen, denen das Thema wichtig ist und die es etwa mit internen Seminaren und – besonders wertvoll – hierarchieübergreifendem Austausch angehen. Dann gibt es aber auch Unternehmen, die psychische Erkrankungen lieber nicht thematisieren, weil sie nicht den Eindruck erwecken wollen, sie hätten in dieser Hinsicht tatsächlich ein Problem. Ich wage zu behaupten, dass genau bei diesen Unternehmen dies häufig der Fall ist. Eine dritte Gruppe von Unternehmen schliesslich sieht schlicht keinen Bedarf, psychische Probleme zum Thema zu machen.

Was entgegnen Sie solchen Unternehmen?
Die Arbeitgeber tragen eine Verantwortung für ihre Mitarbeiter und haben ein eigenes Interesse daran, dass diese nicht aus psychischen Gründen aus dem Arbeitsprozess ausscheiden. Denn neben dem menschlichen Leid können auch erhebliche volks- wie betriebswirtschaftliche Kosten vermieden werden. Menschen, die ein Burnout oder eine Depression erleiden, zeichnen sich meist durch ein hohes Engagement, hohe Ansprüche an sich selber und ein starkes Verantwortungsbewusstsein aus. Mit diesen Eigenschaften sind sie wichtige Mitarbeitende für ein Unternehmen. Sie zu halten oder wieder einzugliedern, lohnt sich für alle Beteiligten. Voraussetzungen sind die Offenheit sowohl des Arbeitgebers als auch der Arbeitskollegen, einer solchen Person eine Chance zu geben, sie nicht zu stigmatisieren und weder unter eine Käseglocke zu stellen noch zu überfordern. Ebenso – und das ist mir wichtig zu betonen – haben aber die Betroffenen ihren Beitrag zu leisten: Ohne ihre Bereitschaft, an sich zu arbeiten und ihr Verhalten zu ändern, geht es nicht. Sie müssen lernen, nachhaltiger mit ihren persönlichen Ressourcen umzugehen – so ist es mir selber auch ergangen.