«Wer mit 55 entlassen wird, dem hilft es wenig, wenn er vom RAV in Kurse geschickt wird»

13. April 2016 Medienbeiträge

Arbeitslosigkeit im Alter ist ein emotionales Thema. Für Arbeitgeberpräsident Valentin Vogt aber ist die Schweiz in diesem Bereich gut aufgestellt. Wer betroffen sei, brauche in erster Linie Betreuung.

Zu Auftakt der Wintersession 2015 haben ältere Arbeitslose vor dem Bundeshaus demonstriert, weil sie sich wie Müll behandelt fühlen. Was können Sie diesen Leuten sagen?
Ich kenne solche Menschen und betreue einige von ihnen. Wer mit 55 entlassen wird, dem hilft es wenig, wenn er oder sie vom RAV in Kurse geschickt wird. Die Leute brauchen Betreuung. Aber es sind Einzelschicksale, es handelt sich nicht um ein Massenphänomen. Wer vor 15 Jahren im Alter arbeitslos wurde, nahm es mehr oder weniger als Schicksalsschlag hin. Man konnte allenfalls einen Leserbrief schreiben. Heute können sie es mit drei Klicks zum nationalen Thema machen.

Es mag kein Massenphänomen sein, aber es ist ein sehr emotionales Thema.
Jeder kennt jemanden, der davon betroffen ist. Das ist auch eine Folge der heutigen Kommunikationsmittel. Ich betreue wie gesagt etwa fünf Leute, die Schwierigkeiten haben, wieder eine Stelle zu finden. Häufig gehen sie die Sache nicht optimal an. 70 Prozent aller offenen Stellen werden gar nie ausgeschrieben. Man muss sein Netzwerk benutzen und vor allem mit seiner Vergangenheit abgeschlossen haben.

Was verstehen Sie darunter?
Ich kenne Fälle von älteren Arbeitslosen, die einem möglichen neuen Arbeitgeber erst einmal erzählt haben, was alles schief gelaufen ist. Das interessiert den Arbeitgeber überhaupt nicht. Er will sich kein neues Problem einhandeln, sondern jemanden anstellen, der ihm bei der Bewältigung der täglichen Herausforderungen hilft. Solche Leute brauchen Betreuung, viele haben sich 30 Jahre lang nie mehr bewerben müssen. Man muss sie besser unterstützen.

Viele ältere Menschen sind nicht direkt von Jobverlust bedroht, aber sie fürchten sich davor.
Im CS-Sorgenbarometer liegt das Thema Arbeitslosigkeit ganz oben. Aber wir klagen auf hohem Niveau. In Ländern wie Frankreich, in denen die Arbeitslosigkeit um einiges höher ist, machen sich die Leute zu diesem Thema viel weniger Sorgen.

Vor rund zehn Jahren hiess es, die Wirtschaft brauche die älteren Arbeitnehmer unbedingt. Dann kam die volle Personenfreizügigkeit. Was sagen Sie zum Vorwurf, die Unternehmen würden seither lieber jüngere Leute aus der EU rekrutieren?
Die werden in anderen Berufen eingesetzt als jenen, in denen die älteren Einheimischen tätig sind. Das ist zumindest meine persönliche Meinung. In meinem Unternehmen kann man einen Polen ohne Berufslehre nicht einfach an einem Bohrwerk einsetzen.

In den Köpfen vieler Arbeitgeber hält sich aber hartnäckig das Vorurteil, ältere Arbeitnehmer seien weniger flexibel.
Wer heute ihr Potenzial erkennt, ist der Sieger von morgen, und zwar aufgrund des verschärften Wettbewerbs. Aus demographischen Gründen scheiden jährlich 5000 Personen mehr aus dem Arbeitsmarkt aus, als neu hinzukommen. In zehn Jahren sind das 50’000 Leute. Bei den Lehrlingen lief es ähnlich. In unserer Firma wurde der erste Lehrvertrag 1896 unterschrieben. Davon profitieren wir noch heute, wir können unsere Lehrlinge auswählen. Wer vorausschaut, ist der Sieger von morgen. Wer von der Hand in den Mund lebt, wird den Winter nicht überleben.

Sie postulieren Bogenkarrieren mit abnehmender Verantwortung und entsprechend sinkendem Lohn mit zunehmendem Alter als Mittel gegen Jobverluste.
Wir müssen uns von der Idee verabschieden, dass wir bis 65 mit Vollgas unterwegs sind, und danach geschieht nichts mehr. Wir haben Mitarbeiter, die mit zunehmendem Alter ihr Pensum reduzieren wollen. Gleichzeitig erhalten alle, die in Rente gehen, einen Pensioniertenvertrag. Sie haben die Möglichkeit, bei Bedarf weiter zu arbeiten, ohne dazu verpflichtet zu sein. Das funktioniert hervorragend. Wir können auf diese Weise 80 Prozent aller Temporärstellen besetzen.

Braucht es mehr derartige Beispiele, die die Wertschätzung älterer Arbeitnehmer zeigen?
Wir haben sie gesammelt, von kleinen Firmen mit fünf Leuten bis zu Migros und Novartis, die eigene Modelle haben. Damit wollen wir andere sensibilisieren. Wir stellen auch Ansprechpartner zur Verfügung, die man direkt kontaktieren kann, um sich zu informieren. So funktioniert die Schweiz, von unten nach oben. Umgekehrt braucht es auch Massnahmen, aber man muss sie auf das Minimum beschränken.

Ein weiteres Thema ist die Erwerbstätigkeit der Frauen. Überspitzt gesagt arbeiten fast alle Frauen Teilzeit, während fast alle Männer Vollzeit tätig sind. Was unternehmen Sie in diesem Bereich?
Wir sind mit den Niederlanden in Europa an der Spitze bei Teilzeitangeboten, aber zwei Drittel aller Stellen entfallen auf die Frauen. Wir brauchen nicht mehr Teilzeitjobs, es muss uns gelingen, die Pensen zu erhöhen. Das braucht aber auch die Mitarbeitenden. Ich habe erst letzte Woche bei uns eine Ingenieurin zu überzeugen versucht, ihr Pensum von 40 auf 60 Prozent zu erhöhen. Sie sagte mir, für sie stimme es so. Jetzt versucht sie es trotzdem, nachdem ich ihr versichert habe, sie könne jederzeit wieder reduzieren. Das ist auch ein Wohlstandsthema. Wir müssen das Optimum finden, das für Frauen und Männer am besten passt. Dies bedingt auch eine gewisse Flexibilität von Seiten der Männer.

Und ein Umdenken in den Chefetagen. Häufig können Männer ihr Vollzeitpensum nicht reduzieren, auch wenn sie das wollen.
In meiner Firma lassen wir eine Reduktion auf 80 Prozent zu, aber ich frage jedes Mal, wie das mit den restlichen 20 Prozent geregelt werden soll.

Bei der Kinderbetreuung gilt Skandinavien als Vorbild. Dazu haben Sie nichts gesagt.
Das ist eine andere, durchsozialisierte Welt. Wir sind eine kleine, offene Volkswirtschaft und anders gestrickt.

Man kann trotzdem einiges von den Nordländern abschauen, etwa Krippen, die nicht schon um 18 Uhr zumachen.
Krippen gibt es genug, zumindest in der Stadt Zürich. Das grösste Potenzial liegt bei uns in den Tagesstrukturen an den Schulen. Das ist aber eine staatliche Aufgabe. Wir können das bezahlen. Wenn die Eltern mehr arbeiten, verdienen sie auch mehr und zahlen entsprechend mehr Steuern.

Das Interview mit Valentin Vogt ist auf dem Newsportal Watson erschienen.