«Potenzial bedeutet zuallererst einmal Möglichkeiten»

1. Dezember 2015 Medienbeiträge

Roland A. Müller, Direktor des Schweizerischen Arbeitgeberverbands, beobachtet die Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt aus unternehmerischem Blickwinkel. Im ZESO-Interview spricht er über Einstellungskriterien und Integrationschancen für inländische Arbeitskräfte.

Herr Müller, welche drei Themen stehen aktuell zuoberst auf der Agenda des Schweizerischen Arbeitgeberverbands?
Als erstes nenne ich die Frankenstärke und Fragen zu deren Folgen für die Arbeitgeber. Dann folgen die Masseneinwanderungsinitiative und deren Umsetzung. Das betrifft die Beziehung Schweiz-Europa und die Zukunft der bilateralen Verträge sowie Arbeitsmarktthemen wie Zuwanderung, Inländervorrang und Inländerpotenzial. Das dritte grosse Thema ist die Altersvorsorge. Sie ist über die demografische Entwicklung – Stichwort alternde Gesellschaft – ebenfalls mit dem Thema Arbeitsmarkt verbunden.

Glauben Sie, dass es der Schweiz in absehbarer Zeit gelingen wird, das im Inland brachliegende Arbeitskräftepotenzial zu rekrutieren?
Es wird uns gelingen, einen Teil dessen, was man als Potenzial identifizieren kann, zu rekrutieren. Potenzial bedeutet zuallererst einmal Möglichkeiten. Das Potenzial muss sich am einzelnen Menschen herauskristallisieren: Ist er bereit, stimmen die Rahmenbedingungen für ihn? Gibt es ein bedarfsgerechtes Angebot an Aus- oder Weiterbildungen für ältere Arbeitnehmende oder für Frauen, die wieder ins Berufsleben einsteigen möchten? Bei den Betreuungsangeboten etwa sind wir noch lange nicht dort, wo wir es uns wünschen würden. Ich vermute, dass man sich teilweise falsche Vorstellungen macht von dem, was möglich ist.

Was muss aus Sicht der Arbeitgeber erfüllt sein, damit es in der Praxis möglichst gut funktioniert?
Wenn der Arbeitgeber eine Stelle ausschreibt, sucht er ein bestimmtes Profil. Im Rekrutierungsprozess geht es darum, die am besten qualifizierten Leute zu finden. Das ist die Ausgangslage. Wir haben aber festgestellt, dass die Arbeitgeber aufgrund der laufenden Diskussionen aufmerksamer geworden sind und nicht mehr unreflektiert die jüngsten und günstigsten Bewerber rekrutieren. Man entscheidet sich bewusst für mehr Frauen und Ältere, weil sie andere Sozialkompetenzen und Erfahrungen mitbringen. Aber das Profil muss gleichwohl passen. Wenn ein älterer Stellensuchender falsche Vorstellungen hat, beispielsweise den gleichen Job ausüben möchte, den er einmal hatte, dann wird es schwierig. Generell suchen Arbeitslose zu lange auf dem bisherigen Level. Es braucht Gespräche und Offenheit auf beiden Seiten.

Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Arbeitsvermittlung?
Die regionalen Arbeitsvermittlungszentren müssen wegkommen von den Kollektivkursen und stattdessen mehr persönliche Betreuung anbieten. Mit einer persönlichen Analyse kann detailliert abgeklärt werden, was jemand bereit und fähig ist zu leisten. Solche Ansätze existieren, aber sie stecken noch in den Kinderschuhen und sind von RAV zu RAV unterschiedlich. Heute besteht die Arbeit der RAV primär darin, die Menge – derzeit sind es rund 135 000 Arbeitslose – zu bewältigen. Um jene Fälle, die nicht so einfach wieder in den Arbeitsmarkt zurückfinden, kümmert man sich viel zu wenig.

Inwiefern ist die Kommunikation zwischen Arbeitgebern und RAV ein Teil des Problems?
Wir haben es mit gewachsenen Strukturen zu tun, die sich nur langsam verändern lassen. Im Rahmen der Diskussionen über die Fachkräfteinitiative wurde festgestellt, dass die Schnittstelle zu den RAV verbessert werden muss.

Wie lautet Ihr Vorschlag?
Für die Fälle, die ein Mehr an Betreuung benötigen, kann man die Invalidenversicherung als Vorbild nehmen. Sie hat ihr System grundlegend umgestellt und eine Art Case Management eingeführt. Auch bei anderen arbeitsmarktlichen Massnahmen gibt es Anpassungsbedarf. Das Instrument der Einarbeitungszuschüsse beispielsweise sollte stärker gefördert werden.

Was könnten die Arbeitgeber selbst zur besseren Erschliessung des Inlandpotenzials beitragen?
Im Rahmen des Programms «Zukunft Arbeitsmarkt Schweiz» haben wir zahlreiche Beispiele von Unternehmungen gesammelt. Sie legen den Schluss nahe, dass das Lebensalter in der Personalrekrutierung und -förderung weder im Vordergrund steht noch ein Problem ist. Viele Unternehmen führen regelmässige, altersunabhängige Standortgespräche durch. Diese Kultur ist aber noch nicht überall verankert, und Standortgespräche können insbesondere bei den älteren Arbeitnehmenden auch Ängste hervorrufen. Andere Unternehmen stellen das zur Verfügung stehende Geld für Weiterbildungen gezielt auch älteren Arbeitnehmenden zur Verfügung. Was aus unserer Sicht nicht funktioniert, sind Quoten.

Was tut der Arbeitgeberverband für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf?
Die Arbeitgeber wenden in ihren Betrieben ja bereits flexible Arbeitsmodelle an: Teilzeitarbeit ist in der Schweiz weit verbreitet. Für die Arbeitgeber ist das Anheben von existierenden Teilzeitpensen attraktiv, beispielsweise von 40 auf 60 Prozent oder von 60 auf 80 Prozent. Eine Ausweitung des Pensums scheitert aber oft an fehlenden Betreuungsangeboten und an deren Tarifierung. Letztere ist meistens so progressiv, dass der finanzielle Anreiz, mehr zu arbeiten, wegfällt. Ebenfalls demotivierend wirkt, dass man die Gestehungskosten bei der Steuererklärung nicht den Berufsauslagen anrechnen kann. – Bei fehlenden Betreuungsangeboten denke ich übrigens weniger an Krippenplätze, sondern an Ganztagesstrukturen für Kinder im Schulalter. Hierzu bringen wir uns im Rahmen der Fachkräfteinitiative und dem Programm «Zukunft Arbeitsmarkt Schweiz» ein.

Sie setzen sich für Ganztagesstrukturen an Schulen ein. Das würde eine Schulreform bedingen?
Die durchgehende Betreuung, die um sieben Uhr morgens beginnt, muss zum normalen Schulangebot werden. Dass es so lange dauert, hat mit den föderalen Strukturen bei den Steuer- und den Schulsystemen zu tun. Es fehlt der Druck, damit alle Stakeholder gemeinsam etwas bewegen würden. Man könnte von einer Mehrfachproblematik sprechen. Andere Faktoren, die sich negativ auf das Arbeitskräftepotenzial auswirken, sind fehlende Bildung und mangelhafte Ausbildung. Wir Arbeitgeber können diese Probleme nicht von uns aus lösen oder für die Kosten aufkommen. Aber wir sind bereit, über diese Problematik zu sprechen.

Welche Verantwortung haben die Wirtschaft und die Unternehmen gegenüber der Gesellschaft?
Sie ist im Vergleich mit anderen Ländern hoch, sie ist ein fester gesellschaftlicher Wert. Das zeigt sich auch darin, dass es in der Schweiz wenig sozialen Unfrieden gibt und wir wenig Streiks und Demonstrationen haben. Die Zufriedenheit der Bevölkerung ist relativ hoch. Das wiederum ist durch unser Staatssystem bedingt, das es dem Volk ermöglicht, seine Befindlichkeit genügend zum Ausdruck zu bringen.

Welche Rolle spielen die Unternehmen?
Sie tragen ihren Teil der Verantwortung. Unsere Unternehmen sind sich bewusst, dass es nicht tolerierbar ist, gezielt Arbeitnehmerkategorien abzubauen oder unfaire Löhne zu zahlen oder Standards bei den Arbeitsbedingungen zu verletzen.

Sie haben vorhin die Arbeitsintegration der IV gelobt. Ein Problem ist hier aber, dass sich die RAV, die IV, die Sozialhilfe und die Asylbehörden bei der Suche nach Plätzen für die Arbeitsintegration gegenseitig im Weg stehen. Müssten sich die Arbeitgeber nicht stärker engagieren, indem sie wieder mehr niederschwellige Arbeitsplätze schaffen?
Der primäre Zweck eines Unternehmens ist es nun einmal, dafür zu sorgen, dass das Geschäft läuft. Im Konkurrenzkampf zu bestehen, ist im Hochlohn- und Hochpreisland Schweiz eine herausfordernde Aufgabe. Entsprechend mussten aus Wettbewerbsgründen niederschwellige Arbeitsplätze zum Teil abgebaut oder ins Ausland ausgelagert werden. Aber natürlich haben die Unternehmer auch eine soziale Verantwortung. Oftmals übernehmen die Medien eine soziale Kontrolle. Als Beispiel, dass der öffentliche Diskurs Schranken setzen kann, sei auf die Abzockerdebatte hingewiesen.

Der Abbau von Arbeitsplätzen für wenig Qualifizierte lässt sich kaum rückgängig machen. Wo lassen sich neue niederschwellige Stellen schaffen?
Gewisse Arbeiten gibt es nicht mehr. In einer sich entwickelnden Gesellschaft ist das der Lauf der Dinge. Neue Möglichkeiten dürften sich beispielsweise im Gesundheitswesen, im Schulwesen und im Bereich Betreuung anbieten – eigentlich überall, wo soziale Kompetenzen gefragt sind. Das sind gerade auch Jobs für Leute, die den Anschluss verloren haben, die aber bereit sind, zu unterstützen. Das hat nichts mit Ausnützen zu tun, sondern damit, dass jemand seinen Platz in der Gesellschaft finden kann.

Eine Anstellung im Gesundheitswesen oder in einer Schule ist heute ohne Diplom kaum mehr möglich.
Vielleicht müsste man mehr Ausbildungen vom Typ Anlehre schaffen. Warum sollen wir fähige Leute nicht beispielsweise im Rahmen von Ganztagesstrukturen in Schulen arbeiten lassen, wo sie Kinder betreuen, oder in Altersheimen, wo sie ältere Menschen unterstützen? Der gesellschaftliche und technologische Wandel erfordert die Bereitschaft von allen, sich auf Neues einzulassen.

Wie soll die Gesellschaft mit «nichtintegrierbaren» Menschen umgehen?
Wenn Systeme wie die IV oder die ALV optimiert werden, müssen wir uns im Arbeitgeberverband auch damit auseinandersetzen, was diese Reformen sonst noch bewirken. Arbeitgeberpolitik muss immer auch eine nachhaltige Gesellschaftspolitik sein.

Das hat aus Ihrer Ecke nicht immer so getönt.
Effektiv wurde das in unseren Kreisen nicht immer so verstanden. Aber es ist eine Tatsache, dass es Leute gibt, denen der Wiedereinstieg nicht mehr gelingt. Der Meinungswandel innerhalb des Verbands zeigt sich auch darin, dass wir uns früher gegen Sozialfirmen gestellt haben. Heute sagen wir: Es ist wichtig, dass es Sozialfirmen gibt und dass wir miteinander regional den Dialog suchen, um das Konkurrenzthema zum Kleingewerbe gemeinsam zu diskutieren. Besser, wir ergänzen uns, anstatt dass niederschwellige Arbeiten ins Ausland ausgelagert werden. Wenn Sozialfirmen allerdings so aufgestellt sind, dass sie Arbeitsplätze im ersten Arbeitsmarkt gefährden, wird es natürlich problematisch.

Wie definieren Sie die Funktion der Sozialhilfe?
Sie hat zwei Aufgaben: Die Sicherung der existenziellen Grundbedürfnisse für Personen mit Problemen, finanziell über die Runden zu kommen. Die zweite Aufgabe ist die persönliche Unterstützung im Sinne eines Coachings. Dieser Aspekt ist ebenso wichtig.

Viele Sozialarbeitende betreuen derart viele Fälle, dass sie keine Zeit haben, beratend auf nachhaltige Lösungen hin zu wirken. Wer soll diesen von Ihnen monierten Ausbau in Richtung mehr Coaching bezahlen?
An diese Frage muss man unverkrampft herangehen. Jede Investition verursacht Kosten, bevor ein Nutzen resultiert. Wenn mit einer engeren und persönlichen Begleitung die Sozialhilfequote und die Ausgaben langfristig reduziert werden können, müssen die Mittel dafür zur Verfügung gestellt werden. Es ist also durchaus denkbar, dass auf diesem Weg die Gesamtkosten für die Sozialhilfe reduziert werden könnten. Der Umbau der IV hat zuerst durch den Ausbau der IV-Stellen auch zusätzliche Kosten verursacht und wird erst später durch die Reduktion der Rentenfälle zu weniger Auslagen führen.

Sie verfolgen damit eine andere Stossrichtung als die laufende Revision der SKOS-Richtlinien, bei der es unter anderem um die Höhe des Grundbedarfs und um strengere Sanktionsmöglichkeiten geht. Mit Ihrem Ansatz, der Mehrkosten verursacht, lassen sich politisch kaum Lorbeeren verdienen.
Es geht nicht darum, per Saldo Mehrkosten zu generieren. Wie erwähnt, kann es sein, dass zu Beginn höhere Investitionen anfallen. Mittel- und langfristig sollten jedoch durch individuelles Coaching die Betroffenen wieder auf eigenen Beinen stehen können. Langfristig spart man daher Geld. Es ist eine Tatsache, ob in der Sozialhilfe oder im Umfeld von Arbeitslosen, dass die persönliche Betreuung das A und O ist. Als Arbeitgeberverband sind wir bereit, über diese Fragen mitzudiskutieren und nach Lösungen zu suchen.

Wo würden Sie sonst noch ansetzen?
Ein wichtiges Thema ist das Ausmerzen der Schwelleneffekte. Arbeit muss sich lohnen. Es ist daher zu verhindern, dass beispielsweise durch Teilerwerb per Saldo ein tieferes verfügbares Einkommen resultiert als ohne. Dabei sind auch steuerliche Einflüsse zu berücksichtigen.

Das Interview mit Roland A. Müller ist in der Zeitschrift für Sozialhilfe «ZESO» erschienen.