Mindestlohn-Initiative: Stellenabbau und höhere Preise

Was würde ein Spieler zu hören bekommen, der mitten in einem erfolgreichen Match absichtlich ins eigene Goal schiesst? Man verzeihe den Vergleich, aber das Erfolgsmodell Schweiz, das entscheidend vom liberalen Arbeitsmarkt und von der internationalen Vernetzung profitiert, gerät zusehends unter Druck. Dieser ist vielfach hausgemacht und beeinträchtigt unsere Wettbewerbsfähigkeit. Der neueste Angriff ist die Mindestlohn-Initiative der Gewerkschaften. Sie will – ähnlich wie die 1:12-Initiative – eine staatliche Lohnpolitik einführen und so die Erfolgsfaktoren der sozialen Marktwirtschaft eliminieren. Damit ist sie im heutigen Umfeld ein Eigengoal: Die Initiative trifft diejenigen am härtesten, denen sie vorgibt zu helfen.

Schweizer Unternehmen sollen ihren Angestellten laut Initiative künftig mindestens 22 Franken pro Stunde bezahlen. Auch kaufkraftbereinigt wäre das weltweit der mit Abstand höchste Mindestlohn. Auf die Tatsache, dass sich die Lebenshaltungskosten in der Schweiz regional klar unterscheiden und die Löhne deswegen variieren müssen, wird keinerlei Rücksicht genommen. Ebenso werden branchenspezifische Unterschiede völlig ausser Acht gelassen. Dadurch wird die bewährte Sozialpartnerschaft mutwillig zerstört und ein Stellenabbau im Tieflohnbereich in Kauf genommen.

Die Lebenshaltungskosten sind in ländlichen Regionen bedeutend tiefer als in Zentren wie Zürich, Basel oder Genf. Das lässt sich besonders treffend an den Mietkosten aufzeigen, die in der Schweiz je nach Region zwischen 14 600 und 37 000 Franken pro Jahr für eine vergleichbare Vierzimmerwohnung liegen. Dass sich das unterschiedliche Preisniveau in den Löhnen widerspiegeln muss, liegt auf der Hand. Die Initianten der Mindestlohn-Initiative kümmert das nicht. Auch bei den Branchen gibt es grosse Unterschiede, die eine differenzierte Betrachtung erfordern. Niemand bestreitet, dass beispielsweise die Pharmaindustrie eine signifikant höhere Produktivität aufweist als die Landwirtschaft. Sie kann darum auch höhere Löhne bezahlen. Die Landwirtschaft und viele andere Branchen kämen aber mit solch hohen Stundenlöhnen sehr stark in Bedrängnis. Den Initianten erscheint das nicht der Rede wert. Sie nehmen einen Stellenabbau und steigende Preise in den betroffenen Branchen in Kauf.

Heute werden die Arbeitsbedingungen und Löhne in branchenspezifischen Gesamtarbeitsverträgen ausgehandelt, wobei auch die Lebenshaltungskosten, die Wettbewerbsfähigkeit der verschiedenen Regionen und die Qualifikation der Arbeitnehmenden berücksichtigt werden. Die Wirtschaft hat bewiesen, dass sie zu konstruktiven Lösungen Hand bietet und auch branchenspezifische Mindestlohnvereinbarungen mitträgt. Nehmen wir als Beispiel den GAV für das schweizerische Coiffeurgewerbe, der bis 2018 eine sukzessive Anhebung des Mindestlohns auf 3800 Franken für ausgebildetes Personal vorsieht. Hier wurde ein Mindestlohn vereinbart, der alle Interessen berücksichtigt: diejenigen der Angestellten auf eine faire und angemessene Entlöhnung und diejenigen der Arbeitgeber auf einen Lohn, welcher der Produktivität entspricht. Bei einer Annahme der Mindestlohn-Initiative wird es zu Stellenabbau im Coiffeurgewerbe kommen. Indem die Initianten massgeschneiderte Lösungen unterbinden und die Branchengewerkschaften ausbremsen wollen, blenden sie die Interessen der Arbeitnehmenden in den betroffenen Branchen aus und sehen den Verlust von Arbeitsplätzen bestenfalls als lästige Begleiterscheinung.

Die Mindestlohn-Initiative will das Prinzip, dass sich Leistung und Bereitschaft zur Weiterbildung lohnen, auf den Kopf stellen. Indem sie jedem Arbeitnehmenden, ungeachtet seiner Qualifikation, einen Mindestlohn über 4000 Franken garantiert, schmälert sie den Anreiz der Berufslehre. Gerade aus einer kurzfristigen Optik heraus könnten sich Junge vermehrt gegen eine Ausbildung entscheiden. Sobald es jedoch zu einer schwächeren Konjunkturphase kommt, wären sie die Ersten, die auf der Strecke blieben und unsere Sozialversicherungen belasten würden. Ebenfalls deutlich schwieriger, einen Arbeitsplatz zu finden, würde es für Wiedereinsteigerinnen, da sie oftmals einen grossen Nachholbedarf haben und deswegen gerade bei Wiederaufnahme ihrer Erwerbstätigkeit nicht konkurrenzfähig wären.

Der Erfolg der Schweiz hängt – gerade auch im Vergleich zum Ausland – von einem flexiblen und liberalen Arbeitsmarkt ab, der es erlaubt, dynamisch auf Entwicklungen zu reagieren. Starre Vorschriften stellen dieses Erfolgsmodell infrage. Wenn wir uns vor Augen führen, dass unser Nachbarland Deutschland über die Einführung eines halb so hohen Mindestlohns diskutiert, ist es geradezu absurd zu glauben, dass es nicht zur Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland käme. Die Schweiz ist keine Insel. Besonders exportorientierte Firmen stehen bereits heute massiv unter Druck, um mit dem günstigen Ausland Schritt halten zu können. Ebenso nähme der Rationalisierungsdruck für nicht exportorientierte Branchen weiter zu. Dieser Trend ist bereits heute sichtbar und würde sich zweifellos verschärfen. Denken wir dabei nur an Kassenautomaten in Supermärkten oder an Self-Check-in-Schalter in Flughäfen.

Nach dem Entscheid des 9. Februar, der zu einem Klima der Unsicherheit geführt und das Vertrauen in den Wirtschaftsstandort Schweiz geschwächt hat, muss jetzt alles dafür getan werden, die Stärke des Wirtschaftsstandorts Schweiz nicht weiter zu untergraben. Die Mindestlohn-Initiative der Gewerkschaften widerspricht diesem Ziel klar. Ich kämpfe für die bewährte Sozialpartnerschaft und wehre mich entschieden gegen ein Lohndiktat vom Staat. Ich sage deshalb mit Überzeugung Nein am 18. Mai zur undifferenzierten und deswegen schädlichen Mindestlohn-Initiative.

Der Kommentar von Roland A. Müller erschien in der Neuen Zürcher Zeitung (10.03.2014).