«Die Sozialpartnerschaft muss sich mit der Digitalisierung weiterentwickeln»

21. August 2017 5 Fragen an...

Die Digitalisierung erleichtert unseren Alltag in mancher Hinsicht. Sie wird aber auch als Bedrohung wahrgenommen – etwa für den eigenen Arbeitsplatz. Was ist dran an dieser Befürchtung? Der Ökonom Stephan Vaterlaus hat die Auswirkungen der digitalen Transformation auf den Schweizer Arbeitsmarkt untersucht und die Ergebnisse am diesjährigen ARBEITGEBERTAG präsentiert. Handlungsbedarf sieht er primär in der Bildung, aber auch in der Sozialpartnerschaft, damit die Schweiz die sich bietenden Chancen optimal nutzen kann.

Begriffe wie «Digitalisierung», «Automatisierung», «technologischer Wandel» und dergleichen sind in aller Munde. Was verbindet diese Phänomene?
Automatisierung und technologischer Wandel sind fortwährende, schon länger zu beobachtende Prozesse. Mit der Digitalisierung kommt ein neueres Phänomen dazu: die weltweite Vernetzung, welche die Welt zum Dorf macht. Jeder industriellen Revolution lag jeweils eine neue Technologie zugrunde. Nach der Dampfmaschine, dem Fliessband und der Elektrizität ist es bei der vierten industriellen Revolution das Internet, das die Gesellschaft in diversen Bereichen stark beeinflusst.

Gemäss Ihrer Metaanalyse verstärkt die Digitalisierung auf dem Schweizer Arbeitsmarkt die Nachfrage nach hoch- und niedrigqualifizierter Arbeit. Ausserdem verlagert sich die Beschäftigung von der Industrie zu den Dienstleistungen. Wie sind diese Entwicklungen zu erklären – und werden sie sich fortsetzen?
Die Digitalisierung löst einen hohen Bedarf an spezifischem Wissen aus – und damit an Personen mit entsprechenden Qualifikationen. Diese Jobs für Hochqualifizierte ziehen zusätzliche Dienstleistungen mit tiefen Anforderungen nach sich. Studien gehen von einem Verhältnis bis zu 1:4 aus: Pro Stelle mit hohen Qualifikationsanforderungen entstehen maximal vier Stellen für niedrigqualifizierte Personen. Umgekehrt können heute durch die Digitalisierung viele Tätigkeiten mit mittleren Anforderungen, insbesondere kopflastige Routinetätigkeiten, rationalisiert werden. Davon sind aber nur einzelne Tätigkeiten, nicht ganze Berufe, betroffen. Deshalb wird häufig das Ausmass überschätzt, in dem Stellen der Digitalisierung zum Opfer fallen könnten. Unter dem Strich ist in den nächsten Jahren von einer positiven Stellenbilanz auszugehen. Die Analyse nach Wirtschaftszweigen zeigt, dass sich die schon länger steigende Bedeutung des Dienstleistungssektors wegen der Digitalisierung zusätzlich beschleunigt. Beide Entwicklungen werden sich in allen wachsenden Volkswirtschaften weiter fortsetzen, irgendwann jedoch an Dynamik verlieren.

In welchen Branchen und Berufen dürfte in den nächsten Jahren aufgrund der Digitalisierung die Nachfrage nach Arbeitskräften zunehmen, in welchen dagegen abnehmen?
Im Gegensatz zur Automatisierung, die vor allem die Produktionsindustrie betraf, sind von der Digitalisierung Funktionen betroffen, die sich quer durch alle Branchen finden, etwa jene des Sachbearbeiters. Darüber hinaus sind verschiedene etablierte Branchen mit neuer Konkurrenz konfrontiert, etwa das Taxigewerbe, die Hotellerie oder der Detailhandel. Hierbei handelt es sich um Branchen, in denen Daten eine wichtige Rolle spielen und Quereinsteiger Fuss fassen können, weil sie über grosse Mengen von Daten verfügen. Ich denke beispielsweise auch an Google: Mithilfe unzähliger Daten über seine Nutzer und Algorithmen könnte das Tech-Unternehmen im Bereich der Diagnostik die grossen Pharmakonzerne in Bedrängnis bringen.

Wo muss die Politik bei der Gestaltung der Rahmenbedingungen ansetzen, damit die Schweiz die Chancen der Digitalisierung nutzen kann?
Grundsätzlich gilt für alle Rahmenbedingungen: Um digitalisierungstauglich zu sein, müssen sie schnell und flexibel angepasst werden können. Denn die Digitalisierung bringt erstens Veränderungen in hohem Tempo mit sich, die zweitens schwer vorhersehbar sind. Primär ist die Politik in der Bildung gefordert, und zwar von der Grundschule bis zur Hochschule: Im Zuge der Digitalisierung verkürzt sich die Halbwertszeit der Ausbildung weiter. Lebenslanges Lernen und permanente Weiterbildung sind mehr denn je das Gebot der Stunde. Unser Bildungssystem ist teilweise jedoch zu träge, um schnell genug auf Veränderungen zu reagieren – etwa, wenn durch die Digitalisierung neue Berufe entstehen. Weitere wichtige Regulierungsbereiche sind unter anderen das Arbeits- und das Sozialversicherungsrecht sowie der Datenschutz. So ist die Unterscheidung im Arbeitsrecht zwischen Selbstständigerwerbenden und Angestellten zu überdenken. Denn durch die Digitalisierung verliert das klassische Modell der Festanstellung zugunsten neuer Arbeitsformen wie plattform- oder projektbasierter Arbeit an Bedeutung.

Welche Schlüsse sollten Arbeitgeber wie Arbeitnehmer aus den dargelegten Folgen der Digitalisierung ziehen – und was bedeuten sie für die Zukunft der Sozialpartnerschaft?
Als Arbeitgeber muss man sich zum einen mit der Personalpolitik auseinandersetzen: Welche Kompetenzen brauche ich in Zukunft und wie finde ich die entsprechend qualifizierten Mitarbeitenden? Wie verändert sich meine Funktion als Arbeitgeber und wie sind meine Mitarbeitenden von der Digitalisierung betroffen? Zum anderen muss man ein Auge auf mögliche neue Konkurrenz haben und auf die Digitalisierungstauglichkeit der Prozesse im eigenen Unternehmen achten. Arbeitnehmer ihrerseits müssen sich der zunehmenden Bedeutung von Aus- und Weiterbildung und des schnellen Wandels in der Arbeitswelt bewusst sein und offen bleiben für Veränderungen.

Die Sozialpartnerschaft hat in dieser digital geprägten Wirtschaft mehrere Vorzüge. So haben die Sozialpartner im Unterschied zum Gesetzgeber die besseren Möglichkeiten, schnell auf Veränderungen zu reagieren und durch das direkte Gespräch individuell auf die je nach Branche unterschiedlichen Folgen einzugehen. Die Sozialpartnerschaft dürfte also wichtiger werden. Sie muss sich aber ebenfalls weiterentwickeln. Die Arbeitgeberseite ist in der Pflicht, ihre personalpolitischen Überlegungen in die Diskussion einzubringen, und die Gewerkschaften müssen darauf achten, dass sie künftig auch für die zunehmende Zahl Erwerbstätiger offen sind, die nicht in einem klassischen Angestelltenverhältnis arbeiten.