Das unnötige Korsett der Europäischen Sozialcharta ist abzulehnen

10. Januar 2017 Meinungen

Wie eine Seeschlange taucht die Europäische Sozialcharta (ESC) wieder in der bundespolitischen Agenda auf. Vor einigen Wochen hat der Ständerat eine Motion mit dem Titel «Verzicht auf eine Ratifizierung der Europäischen Sozialcharta» abgelehnt und sich damit gegen den Nationalrat gestellt. Dieser erneute Dissens zwischen den beiden Kammern illustriert die tiefe Zerrissenheit im Umgang mit der Charta.

Die dem breiten Publikum kaum bekannte ESC ist eine Übereinkunft des Europarats aus dem Jahr 1961, welche die wirtschaftlichen und sozialen Grundrechte der Vertragsstaaten schützen will. Die Eidgenossenschaft hat es zu Recht stets abgelehnt, diese zu ratifizieren. Denn wie der Bundesrat in einem Bericht vom Februar 2013 festhielt, würde ein Beitritt zur ESC die Schweiz vor «rechtliche, politische oder praktische Probleme» stellen.

Erstaunlicherweise publizierte der gleiche Bundesrat ein Jahr später einen Bericht, gemäss dem die Schweiz aus juristischer Sicht die Kriterien für eine Ratifizierung erfüllen würde. Mit anderen Worten: Die Schweiz könnte sechs der neun Artikel des «harten Kerns« der Charta akzeptieren, darunter das Vereinigungsrecht und das Recht auf soziale Sicherheit.

Dieses seltsame Zurückrudern ist Wind in den Segeln der Charta-Befürworter. In deren Augen stellt die ESC eine unabdingbare Ergänzung zur Europäischen Menschenrechtskonvention dar und bringt der Schweiz einen echten Mehrwert im Bereich der Grundrechte.

In Wahrheit hat man Mühe, die Vorzüge der ESC zu erkennen. Der Text, der Individuen Rechte in so unterschiedlichen Bereichen wie Beschäftigung, sozialer Schutz, Ausbildung, Wohnen und Gesundheit zugesteht, erweist sich als Katalog der guten Absichten ohne reelle Auswirkungen. Was sind denn die konkreten Effekte des Artikels 1 «Recht auf Arbeit», wenn doch in den 28 EU-Mitgliedländern, die alle der ESC beigetreten sind, heute rund 20 Millionen Personen von Arbeitslosigkeit betroffen sind?

 

Wozu die Europäische Sozialcharta ratifizieren, die keinen Zusatznutzen bringt und unser wirtschaftsliberales Erfolgsmodell gefährdet?

Die ESC ist durchdrungen vom philosophischen und politischen Willen, der Gesamtheit aller Länder des Alten Kontinents eine Ausweitung der Sozialleistungen aufzuzwingen. Dabei zeigt das Beispiel der Schweiz, dass es gar keine Zugehörigkeit zur ESC braucht, um über einen gut ausgebauten Sozialstaat zu verfügen. Zur Erinnerung: 2014 betrugen die Ausgaben für soziale Sicherheit bei uns 157 Milliarden Franken oder 24,5 Prozent des BIP. Ein Verzicht auf die ESC bedeutet somit keinen Verzicht auf den Sozialstaat per se.

Die Befürworter einer Ratifizierung betonen den vermeintlich unbedenklichen und nicht verpflichtenden Charakter der Charta. Irrtum, denn die in der ESC verbrieften Rechte sind dynamisch. Sie sind Gegenstand einer weit reichenden Auslegung durch den Europäischen Ausschuss für soziale Rechte, dem aus 15 Mitgliedern bestehenden Kontrollorgan der ESC. In jüngster Vergangenheit hat sich gezeigt, dass dieser Ausschuss den Mitgliedstaaten seine Sichtweise in so sensiblen Bereichen wie der Festlegung einer vernünftigen Dauer für die Tagesarbeitszeit (Artikel 2.1 der ESC) oder der Anerkennung des Rechts für Arbeitnehmende auf eine ausreichende Entlohnung (Art. 4.1) aufzuzwingen vermochte.

Jetzt, da die eidgenössischen Räte endlich einen Kompromiss zur Umsetzung der Masseneinwanderungs-Initiative gefunden haben, käme es höchst ungelegen, wenn wir eine Einmischung des Europarats in unseren Arbeitsmarkt zulassen würden. Die Schweiz als Wohlstands- und Beschäftigungsinsel muss diesen Vertrag, der alle Anzeichen einer Mogelpackung aufweist, vorbehaltlos ablehnen. Wozu einen Text ratifizieren, der keinen Zusatznutzen bringt und unser wirtschaftsliberales Erfolgsmodell gefährdet?

Der Artikel von Marco Taddei ist in «Le Temps» erschienen.