«Wir fahren auf Sicht»

13. Februar 2017 Medienbeiträge

Valentin Vogt, Präsident des Schweizerischen Arbeitgeberverbands, im Interview in der «Finanz und Wirtschaft» über die AHV-Reform, die Migrationspolitik und die Weltwirtschaft.

Das weltwirtschaftliche Umfeld ist unberechenbar. Da sei es doppelt schade, dass die Schweiz Mühe hat, ihre eigenen Rahmenbedingungen zu optimieren, etwa in der Altersvorsorge, sagt Arbeitgeber-Präsident Valentin Vogt.

Herr Vogt, in der Altersvorsorge 2020 gibt es zwischen Stände- und Nationalrat Differenzen. Sie müssen in der März-Session bereinigt werden. Besteht die Gefahr, dass das Projekt schon im Parlament scheitert?
Vor lauter Differenzen geht oft vergessen, dass in vielen Punkten Einigkeit besteht. Das sind unter anderem das Rentenalter 65 für Mann und Frau und die Flexibilisierung des Rentenalters, die Senkung des Mindestumwandlungssatzes und der Wille, diese zu kompensieren. Umstritten sind die Art und Weise, wie kompensiert werden soll, ebenso die Stabilisierungsregel für die AHV und das Ausmass der Mehrwertsteuererhöhung. Es wäre wünschenswert eine Lösung zu finden, doch nicht um jeden Preis.

Was wäre denn ein zu hoher Preis?
Die Version des Ständerats mit den 70 Fr. zusätzlicher AHV-Rente für Neurentner löst das strukturelle Problem der AHV nicht. Im Gegenteil, sie vergrössert es sogar noch. 2035 hätten wir pro Jahr wieder ein Defizit von gegen 6 Mrd. Fr. Es wird noch zu wenig zur Kenntnis genommen, dass in den kommenden Jahren die Zahl der Neurentner erheblich steigen wird, mit entsprechender Wirkung auf die Kostendynamik. Wir müssen die Probleme lösen – es nützt niemandem etwas, sie stattdessen sogar noch zu vergrössern…

…was die Variante des Ständerats tut?
Ja. Diese Version ist extrem teuer. Der Bundesrat legte ursprünglich eine Lösung vor, die knapp 8,5 Mrd. Fr. pro Jahr kostet. Der Ständerat kommt auf 6,8 Mrd. Fr., und die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrats legt jetzt eine Variante vor, die sich auf 4,7 Mrd. Fr. beläuft. Diese letzte Variante sieht eine Kompensation vor, die dort wirkt, wo die Probleme durch die Senkung des Mindestumwandlungssatzes entstehen, während die 70 Fr. mit der Giesskanne verteilt würden, sozusagen eine Miniversion der abgelehnten Initiative AHVplus. Wir können es uns nicht leisten, Geld zu verteilen, wo es nicht gebraucht wird. Zusätzlich würden sogar diejenigen bestraft, die es finanziell am schwersten haben, denn sie erhielten weniger oder gar keine Ergänzungsleistungen mehr und müssten auf der zusätzlichen AHV Steuern bezahlen. Sie hätten damit sogar weniger Geld als vor der Revision.

Was geschieht, wenn sich der Ständerat durchsetzt? Würden die Arbeitgeber dagegen das Referendum ergreifen?
Die Vorlage kommt zu Beginn der März-Session in den Nationalrat, dann in den Ständerat, danach abermals in den Nationalrat. Die Einigungskonferenz ist auf den 16. März angesetzt, am nächsten Tag folgt die Schlussabstimmung im Parlament. Es wäre jetzt falsch, vor den abschliessenden Debatten von unserer Seite her mit dem Referendum zu drohen. Mit einiger Sicherheit wird es so oder so aus linken Kreisen ergriffen werden. Was die umstrittenen 70 Fr. betrifft, stünde die CVP allein, die SP würde sich nicht aktiv engagieren, FDP und SVP würden das nicht unterstützen, und die CVP erhielte auch keine Mittel von der Wirtschaft für eine Kampagne. Also wäre es für die CVP sinnvoller, dieses Vorhaben nun im Parlament zu begraben, als dafür eine aussichtslose Abstimmungskampagne zu wagen.

Der Arbeitgeberverband unterstützt also die Variante der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrats?
Ja, diese Lösung ist aus unserer Sicht gut und ausgewogen. Sie kostet rund 2 Mrd. Fr. weniger als die Variante des Ständerats und kompensiert deutlich besser. Die Eintrittsschwelle in die zweite Säule bleibt gleich, der Koordinationsabzug hingegen fällt weg, was Arbeitnehmenden mit geringem Einkommen, Teilzeitbeschäftigten und Leuten mit mehreren Beschäftigungen zugutekommt, speziell auch den Frauen. Auch die sozialpolitische Abfederung im Umfang von 300 Mio. Fr. für weniger Verdienende begrüssen wir.

Warum macht sich niemand für ein höheres Rentenalter stark? Das wäre einfacher als der Eiertanz um verschiedene Modelle.
Das Thema Rentenalter wird früher oder später auf den Tisch kommen. Derzeit ist eine Erhöhung nicht mehrheitsfähig. Vielenorts werden Ängste geschürt, wir müssten schon ab morgen bis 66 arbeiten. Doch die Stabilisierungsregel, die die SGK des Nationalrats vorschlägt, liesse der Politik Zeit, Massnahmen zu ergreifen. Sollte der Stand des AHV-Fonds dennoch weiterhin sinken und die Politik keine Lösung finden, würde das Rentenalter in Zweimonatsschritten erhöht. In diesem Fall gehen wir gemäss unseren Modellen von einem Rentenalter 66 für Mann und Frau im Jahr 2036 aus.

Für Unsicherheit in der Wirtschaft sorgt auch die Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative MEI. Nun kommt die Rasa-Initiative, «Raus aus der Sackgasse», die den MEI-Artikel streichen will; der Bundesrat will dazu einen Gegenvorschlag unterbreiten. Auch hier: Unübersichtlichkeit.
Ja, es herrscht eine grosse Unsicherheit. Wir wissen, dass wir über die Rasa-Initiative abstimmen werden. Abzuwarten bleibt, ob das Referendum gegen die Umsetzung der MEI zustande kommt. Christoph Blocher hat nun zudem eine Initiative angestossen zur Kündigung der Personenfreizügigkeit und zum Verbot des Abschlusses solcher Verträge. Wir müssen nun Schritt für Schritt gehen. Im Arbeitgeberverband läuft jetzt die Vernehmlassung zu den Gegenvorschlägen zu Rasa; die Meinungsbildung dazu ist noch nicht abgeschlossen. Sollte die von Blocher in Aussicht gestellte Initiative Tatsache werden, ergäbe sich wieder eine völlig neue Ausgangslage.

Also abwarten, wie sich alles entwickelt?
Es empfiehlt sich, nun zu beobachten, auf welche Lösung sich die EU und Grossbritannien verständigen, um danach sozusagen im Windschatten für unsere bilateralen Beziehungen ein Arrangement zu finden. Die Schweiz sollte jetzt nicht heroisch vorangehen, das erachte ich nicht als erfolgversprechend.

Für die Unternehmen bleibt ungewiss, ob sie weiterhin Zugriff haben auf den EU-Arbeitsmarkt.
Das ist ein Element der allgemeinen grossen Unsicherheit. Die Weltwirtschaft ist 2016 moderat gewachsen, Ähnliches ist für 2017 zu erwarten, doch dieses Szenario unterliegt erheblichen Risiken. Etwa was das internationale Finanzsystem betrifft, namentlich in Italien, was die hohe öffentliche Verschuldung, die Wahlen in Frankreich und Deutschland sowie das Verhalten von Präsident Trump anbelangt. Die Schweizer Wirtschaft hat gelernt, mit dieser oder jener grossen Unsicherheit umzugehen, doch gleich so viele auf einmal sind neu. Ich habe es noch kaum je erlebt, dass sich zu Jahresbeginn so viele Ungewissheiten häufen. So lässt es sich nicht gut planen; wir fahren sozusagen auf Sicht, und langfristige Überlegungen stehen im Hintergrund, was ich gefährlich finde.

Die Investitionsneigung fördert das nicht.
Allerdings. Das lässt sich an den Zahlen ablesen. Die Investitionsneigung der Unternehmen in der Schweiz war in den vergangenen Jahren im Vergleich zu früheren Jahren niedrig.

Und es lässt sich nicht viel gegen die ungünstigen Rahmenbedingungen tun.
Viele dieser Faktoren – USA, Frankreich, Italiens Banken usw. – können wir nicht beeinflussen. Tragisch ist jedoch, dass wir anscheinend nicht in der Lage sind, unsere eigenen Stärken, die wir sehr wohl haben, zu verteidigen und zu festigen. Wir werfen uns sogar, widersinnig genug, selbst Knüppel in die eigenen Speichen.

Der Brexit und die Wahl Trumps signalisieren eine Abwendung vom Freihandel. Was bedeutet das für die exportabhängige Schweiz?
Das macht die Situation nochmals schwieriger. Wir sind sehr auf gute Handelsbeziehungen mit dem Ausland angewiesen, gerade auch zum wichtigen Partner Grossbritannien. Es wird nicht einfach sein, mit London ein für die Schweiz gutes Freihandelsabkommen zu vereinbaren.

Die Beziehungen zur EU sind auch fragil.
Die EU drängt auf ein institutionelles Rahmenabkommen, was in der Schweiz nicht mehrheitsfähig ist. Dann gibt es Baustellen wie das Strom- oder das Finanzdienstleistungsabkommen. Wie gesagt: Im Moment scheint es mir sinnvoll, zu verfolgen, was sich zwischen der EU und Grossbritannien entwickelt.

Es wird befürchtet, Trump könnte der Schweizer Pharma Probleme bereiten.
Die Pharmaindustrie ist enorm wichtig für die Schweiz. Sie steht für über 40% unserer Exporte. Davon wiederum entfallen zwei Drittel auf Roche und Novartis. Wenn diese beiden Konzerne in den USA Probleme kriegen, dann hat die ganze Schweizer Volkswirtschaft grosse Sorgen.

Das Interview mit Valentin Vogt ist in der «Finanz und Wirtschaft» erschienen.